Nicht durchdachtes Werbeverbot für 

ungesunde Lebensmittel
Von Peter Helmes

Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen – Wie groß ist das Problem?
Knapp über 15 Prozent der drei bis 17-Jährigen in Deutschland sind nach einer Studie des Robert Koch-Instituts aus dem Jahr 2018 übergewichtig, fast sechs Prozent gelten als adipös. Mögliche Folgen sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Gelenkprobleme und Depressionen. Hinzukommt laut Bundesgesundheitsministerium, daß ein in der Kindheit entwickeltes Übergewicht oft ein Leben lang beibehalten werde.

„Epidemie von Erkrankungen“
Die Ursachen für Übergewicht sind laut RKI vielfältig: Neben dem Medienkonsum spielen zahlreiche Faktoren wie Verpflegung in Kitas, Lebensmittelkosten, der sozioökonomische Status der Familie und Kinderarmut, das Verhalten der Eltern und vor allem auch Bewegung eine entscheidende Rolle.

Und auch die Corona-Pandemie hatte hier einen Einfluß. Den Ergebnissen einer Elternumfrage aus dem Mai 2022 nach hat sie sich negativ auf das Ernährungs- und Bewegungsverhalten ausgewirkt. Demnach bewegte sich fast die Hälfte der Kinder weniger, ein Viertel konsumierte mehr Süß- und Knabberwaren. Insgesamt 16 Prozent sind dadurch dicker geworden, bei den Zehn- bis Zwölfjährigen sogar jeder Dritte.

Zudem hätten sich soziale Unterschiede noch verstärkt, so Hans Hauner, Professor für Ernährungsmedizin an der TU München, im Dlf.  Er hält es für zwingend erforderlich gegenzusteuern, ansonsten komme eine neue und folgenschwere „Epidemie von Erkrankungen“ auf die Gesellschaft zu, die mit Übergewicht und Fettleibigkeit in Zusammenhang stehen.

Um Wege zu einer gesünderen Ernährung wird seit langem gerungen. Da die Ursachen für Übergewicht bei Kindern so divers sind, sind auch die Lösungsansätze vielfältig – da sind sich eigentlich alle Experten einig. Es war also seit langem zu erwarten, daß aus der Politik Rufe nach einem Verbot kommen. Sie sind – wie so oft bei diffusen Problemen – vielstimmig und oft nicht von Sachkenntnis getrübt.
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Was für und gegen ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel spricht
Kinder lieben Süßigkeiten – und die Hersteller bewerben sie entsprechend. Doch damit soll bald Schluß sein: Bundesernährungsminister Cem Özdemir plant ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel für Kinder. Was könnte das bringen?

Bundesernährungsminister Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) möchte an Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit zu viel Zucker, Fett und Salz per Gesetz eindämmen und hat dazu Punkte für einen Gesetzentwurf vorgelegt. Die neuen Regelungen sollen die bisherigen freiwilligen Selbstverpflichtungen ablösen. Davor müssen sie allerdings in der Bundesregierung weiter abgestimmt werden. Auch wenn SPD, FDP und Grüne solche Werbebeschränkungen grundsätzlich im Koalitionsvertrag vereinbart haben, befürworten nicht alle Özdemirs Pläne.

Wie soll das Werbeverbot aussehen?
Was spricht für ein Werbeverbot?
Was spricht gegen ein Werbeverbot?
Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen – Wie groß ist das Problem?
Welche Ideen, das Problem anzugehen gibt es noch?
Wie soll das Werbeverbot aussehen?

Konkret geht es um ein Werbeverbot von Lebensmitteln, die zu viel Zucker, Fett oder Salz beinhalten.
Als Meßlatte hierfür sollen Nährwertprofile der Weltgesundheitsorganisation (WHO) dienen. Ausgenommen sind laut Ministerium Werbung für Milch und Obstsäfte.

Von 6 Uhr morgens bis 23 Uhr soll Werbung für ungesunde Lebensmittel verboten werden, wenn sie sich an Kinder unter 14 Jahren richtet, egal ob im Fernsehen, Radio oder im Internet. Damit sind auch Anzeigen vor Youtube-Videos, Influencer-Marketing oder an Kinder gerichtete Spots bei Übertragungen von Fußballspielen im Fernsehen eingeschlossen.

Daneben möchte Özdemir auch Werbung im direkten Umfeld von Schulen, Kitas, Spielplätzen und Sportvereinen regulieren. Hier soll eine Bannzone von 100 Metern für Plakatwerbung für ungesunde Snacks, die an Kinder gerichtet ist, gelten.
Was es hingegen nicht geben soll, ist ein allgemeines Werbeverbot oder gar ein Verbot ungesunder Lebensmittel.

Wenn der Staat Übergewicht fördert
Es ist billiger, sich ungesund als gesund zu ernähren, sagt Fachjournalist Martin Rücker. Millionen Menschen in Deutschland seien mangelernährt und übergewichtig zugleich. Besonders treffe es die wirtschaftlich Schwachen. Die Politik müsse gegensteuern.

Was spricht für ein Werbeverbot?
Bundesernährungsminister Özdemir  begründete das geplante Gesetz mit einer Schutzverpflichtung Kindern gegenüber. Diese seien besonders empfänglich für Werbung und könnten diese darüber hinaus oft noch nicht als solche erkennen. Dem gegenüber stehe das große Problem, daß viele Kinder und Jugendliche übergewichtig seien, was mit erhöhten gesundheitlichen Risiken behaftet sei.

Unterstützung bekommt Özdemir von Parteikollegen und vom Koalitionspartner SPD: Oft beginne eine chronische Krankheit in der Kindheit, ungesunde Ernährung sei häufig der Anfang, sagte etwa Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) gegenüber der dpa. Grünen-Politikerin Renate Künast wies auf hohe gesellschaftliche Kosten von Krankheiten hin.

Auch Gesundheits- und Verbraucherexperten begrüßten die Pläne. Ein Bündnis aus 40 Verbraucherschützern, Ernährungs- und Kinderschutzorganisationen sowie den größten deutschen Krankenkassen hatte schon im November 2022 ein solches Verbot von Werbung gefordert. Freiwillige Regeln hätten keinen Erfolg gezeigt.

Einer der Experten ist Berthold Koletzko von der Stiftung Kindergesundheit und Leiter der Abteilung Stoffwechsel und Ernährung an der Kinderklinik der Universität München. Er bezeichnete die aktuellen Werbe-Regelungen im Dlf Kultur  als „unerträglich“. So entspreche beispielsweise ein Großteil der im Fernsehen beworbenen Lebensmittel für Kinder nicht den WHO-Kriterien für eine gesunde Ernährung. „Die Datenlage ist klar: Werbung erhöht den Verzehr ungesunder Lebensmittel und führt zu mehr Übergewicht und Adipositas“, so der Mediziner. Der Einfluß der Werbung dürfe nicht unterschätzt werden, auch wenn daneben natürlich noch andere Faktoren eine Rolle spielten.

Ähnlich sieht es Barbara Bitzer von der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). In vielen Studien sei belegt, daß Werbung wirke und besonders bei Kindern Präferenzen fördere. Sie sprach im Dlf Kultur  angesichts der Pläne Özdemirs von einem „Meilenstein der Kindergesundheit“.

Was spricht gegen ein Werbeverbot?
Aus der Lebensmittelwirtschaft, von der Opposition und auch von der mitregierenden FDP kam Kritik an Özdemirs Plänen. So lehnt etwa Christoph Minhoff, Hauptgeschäftsführer des Lebensmittelverbands, das geplante Werbeverbot ab. Sollten die Regelungen tatsächlich so kommen, würde das laut Verband mehr als 70 Prozent der Produkte betreffen.

Auch der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft kritisierte die Pläne als „untauglich“. Das Problem müsse ganzheitlicher betrachtet werden, statt es „monokausal mit Werbeverboten zu lösen“, heißt es in einem Pressestatement. Werbung diene zudem an vielen Stellen der Refinanzierung von Medien und Sport.

Außerdem bemängelt der Verband die Kriterien für ungesunde Lebensmittel.
Hierzu kommt auch Kritik vom Koalitionspartner FDP: Bei der Einstufung von Lebensmitteln in gesund und ungesund seien die WHO-Grenzwerte in der Praxis nicht umsetzbar und hätten deshalb auch nicht den Weg in den Koalitionsvertrag gefunden, sagte  FDP-Politikerin Carina Konrad gegenüber „Welt“.

Die Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion von CDU/CSU, Gitta Connemann (CDU), ärgert sich indes über „Bevormundung pur“. Nicht Werbung sei das Problem, sondern übermäßiger Konsum.

Welche Ideen, das Problem anzugehen, gibt es noch?
Um Wege zu einer gesünderen Ernährung wird seit langem gerungen. Da die Ursachen für Übergewicht bei Kindern so divers sind, sind auch die Lösungsansätze vielfältig – da sind sich eigentlich alle Experten einig.

Die Vorständin des Verbraucherzentrale Bundesverbands Ramona Pop, betonte im Dlf, daß  eine klare Werberegulierung nur ein Baustein in einer breiten Palette an Maßnahmen sei, um ein gesundes Aufwachsen von Kindern zu fördern: „Es braucht mehr Bewegung natürlich. Es braucht gesundes Essen in Kitas und Schulen beispielsweise, das ist ja auch noch ein weiter Weg. Aber es braucht auch eben diese klare Werberegulierung“, so Pop gegenüber dem Dlf.

Ähnlich sieht es Hans Hauner, Professor für Ernährungsmedizin an der TU München. Neben Werbebeschränkungen schlägt er eine Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse und eine Zuckersteuer vor.

„Das faßt natürlich bei uns niemand an. Aber es gibt inzwischen weit über 40 Länder weltweit, die das eingeführt haben wie zum Beispiel England. Sie haben das wirklich clever gemacht, der Industrie auch Zeit gelassen, ihr Produktportfolio zu ändern. Und der Konsum von Zucker über zuckerhaltige Getränke ist dort wirklich signifikant gesenkt worden“, so Hauner im Dlf.

Neben den präventiven Maßnahmen müsse auch den bereits übergewichtigen Jugendlichen geholfen werden, beispielsweise mit frühen Adipositas-Therapien und Kostenübernahmen durch die Krankenkassen.

(Quellen: Dlf, dpa, kna, Panajotis Gavrilis, Volker Mrasek, WHO, RKI, ikl)

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Deutschland muß aufrüsten. 

Nicht bloß militärisch.
Von Peter Helmes

Zugegeben, das auch, sondern vor allem ethisch. Wie die Wellen eines Tsunamis bauen sich die ungelösten Probleme auf und drohen alles und jeden unter sich zu begraben, wenn sie nicht rechtzeitig gebrochen werden. Pflegenotstand, ein auf Kante genähtes Gesundheitssystem, zusammenbrechende Lieferketten und eine Negativrekorde brechende Inflation treffen alle und machen vor niemandem Halt. Gewalt, Geiz, Gier; Krieg, Kriminalität, Korruption; Promiskuität, Pornografie, Prostitution prägen längst unseren Alltag und den unserer Kinder. Wenn nicht real, so doch virtuell. Je loser die familiären Bindungen, je geringer der Bildungsgrad, desto mehr.

Dabei sind es nicht einmal die Probleme selbst, obwohl gewaltig dem Ausmaß und der Zahl nach, die uns schrecken müßten. Es sind die Strategien, die uns, so überhaupt vorhanden, heute zu ihrer Bewältigung angereicht werden. Schnell, mit heißer Nadel gestrickt, auf Wirkung in den Medien schielend, den (a)sozialen zumal, statt klug überlegt, sorgfältig gewogen, wissenschaftlich geprüft und auf Nachhaltigkeit bedacht. Anstatt Phänomene und Sachverhalte so vorurteilsfrei wie möglich und so präzise wie nötig zu untersuchen, halten wir Ausschau nach zündenden „Narrativen“. Wir schämen uns „alternativer Fakten“ nicht und „framen“ Bedeutungszusammenhänge absichtsvoll und wissentlich, was das Zeug hält. Wir sind zu Sophisten geworden, die einander Sand in die Augen streuen.

Statt um „Wahrheit“, geht es uns um den „Sieg“. Wir wollen weder „recht tun“ noch „richtig“ liegen. Wir wollen triumphieren. Wir sind überheblich und rücksichtslos geworden. Daß wir per Mausklick oder Wischen ganze virtuelle Welten dirigieren und beherrschen, qualifiziere uns, so meinen wir, schon zu Vor- und Chefdenkern der realen Welt. Zwischen Feierabend und Zu-Bett-Gehen sind wir die besseren Bundeskanzler, Außen-, Innen-, Wirtschafts-, Finanz-, Bildungs- und Familienminister, nicht selten sogar in Personalunion. Wir leisten uns zu beinah allem und jedem eine Meinung und haben dabei doch selten von mehr als einer Sache wirklich Ahnung.

Wir sind ständig gereizt und übel gelaunt. Wir „haten“ und „canceln“ einander hemmungslos. Wir räumen einander nicht ein, auch einmal etwas übersehen, falsch gewichtet zu haben oder gar einem Irrtum aufgesessen zu sein. Wir unterstellen einander sogleich, Entscheidendes bewußt „ausgeblendet“ oder gar „verschwiegen“ zu haben. Wir geben uns nicht damit zufrieden, andere, von unserer eigenen Meinung abweichende nach sorgfältiger Prüfung abzulehnen, wir müssen sie auch gleich samt ihren Urhebern „verdammen“. Aus dem Bruder, der Schwester, dem Mitmenschen – dem Glauben oder sogar der Menschennatur nach – sind Konkurrenten geworden. Mit ihnen kämpfen wir um Aufmerksamkeit und Beachtung. Wir „batteln“ um „Follower“ und „Likes“. Das Wohlergehen unserer Konkurrenten, erst recht ihr Seelenheil, läßt uns kalt. Wir befinden uns in einem „bellum omnium contra omnes“, einem Krieg aller gegen alle.

Deswegen: Wir müssen ethisch aufrüsten. Und zwar dringend.
Nicht, um den Krieg zu gewinnen, sondern um ihn gar nicht erst führen zu müssen. Dafür brauchen wir „Pathfinder“, Pfadfinder, die uns den Ausgang vom Schlachtfeld bahnen. Wir müssen aufhören, nur unseren eigenen Vorteil zu suchen. Statt bloß um das Eigenwohl, muß  es uns wieder mehr um das Gemeinwohl gehen. Wir müssen wieder anfangen, einander fair zu behandeln, anstatt uns über den Tisch zu ziehen oder einander ins Minus bringen zu wollen. Statt bloß um Vertrauen zu werben, müssen wir anfangen, es uns wieder zu verdienen. Wir müssen bereit sein, den Tatsachen ins Auge zu sehen und den Dingen auf den Grund zu gehen. Wir müssen Probleme sachgerecht lösen wollen, statt uns damit zu begnügen, bei dem Versuch halbwegs gut auszusehen. Statt um „bella figura“ muß es uns um echte „Nachhaltigkeit“ gehen.

Wer Vollzeit arbeitet, muß davon auch leben können. Wohnraum muß wieder bezahlbar werden. Überall – nicht nur auf dem Land. Eltern müssen hinreichend Zeit für die Erziehung ihrer Kinder haben, statt sie fremd betreuen zu lassen, um unterdessen Miete und Lebensunterhalt zu verdienen. Wir müssen Menschen wieder als Personen achten, anstatt sie lediglich als „Funktionen“ zu betrachten, die sie in bestimmten Kontexten durchaus besitzen.

Arbeitgeber sind keine „Kühe“, die Arbeitnehmer „melken“, Arbeitnehmer kein „Humankapital“, das Arbeitgeber „ausbeuten“ dürfen. Wir brauchen einen echten Perspektivwechsel. Einen, bei dem der Mensch nicht von der zu verrichtenden Arbeit hergedacht wird, sondern die Arbeit von dem sie verrichtenden Menschen.

Wir müssen neu verstehen lernen, was Papst Johannes Paul II. einst so formulierte:

„Zweck der Arbeit, jeder vom Menschen verrichteten Arbeit, gelte sie auch in der allgemeinen Wertschätzung als die niedrigste Dienstleistung, als völlig monotone, ja als geächtete Arbeit, bleibt letztlich immer der Mensch selbst.“

Der arbeitende Mensch dürfe daher, „nicht wie ein Instrument behandelt“ und „dem Gesamt der materiellen Produktionsmittel gleichgeschaltet“ werden. Vielmehr sei der Mensch als „Subjekt und Urheber“ der Arbeit das „wahre Ziel des ganzen Produktionsprozesses“.

Wir müssen einsehen, daß die Erde unser „gemeinsames Haus“ (Papst Franziskus)  und die Sorge um sie kein Luxus ist, auf den wir auch verzichten könnten, sondern eine existenzielle Menschheitsaufgabe. Wir müssen anerkennen, daß es auch eine „Ökologie des Menschen“ gibt (Papst Benedikt XVI.), deren Nichtbeachtung nicht minder schwer wiegt. Vor allem müssen wir aufhören, das eine gegen das andere auszuspielen. Nicht um „versus“, sondern um „et – et“ (sowohl – als auch) muß es uns gehen.

Wir müssen neu verinnerlichen, daß die Familie die Keimzelle der Gesellschaft ist und jeder Mensch, auch der noch nicht geborene, ein einzigartiges, unwiederholbares Geschöpf ist.

Unersetzlich und unendlich kostbar. Wir müssen den gesellschaftlichen Wert der alltäglichen Arbeit, die Mütter und Väter in ihren Familien leisten, neu schätzen und hervorheben lernen. Wir dürfen Alleinerziehende und schwangere Frauen in Not nicht allein lassen. Wir müssen ihnen mit Rat und Tat dabei helfen, ihre wahren Probleme zu lösen, anstatt unschuldige und wehrlose Kinder zu solchen zu erklären. Wir müssen neu verstehen lernen, daß Familie und Gesellschaft aufeinander bezogen sind und einander wechselseitig benötigen. Denn: ohne intakte Familien, in der Kinder zu selbstständigen, verantwortungsbewußten, empathie- und liebesfähigen Persönlichkeiten heranreifen können, kann es keine humane Gesellschaft geben. Und: ohne eine humane Gesellschaft fehlt den Familien der notwendige Schutz- und Freiraum, in dem diese Leistungen erbracht werden können.

Wir benötigen „Denkfabriken“ und „Ideenschmieden“, die Konzepte zur nachhaltigen Bewältigung all dieser Probleme erarbeiten, in die gesellschaftlichen Diskurse einspeisen und bewerben. Kurz: Wir brauchen Einrichtungen, wie das von dem 2021 verstorbenen Familienvater, Journalisten, Publizisten und Buchautor Jürgen Liminski zusammen mit anderen gegründeten „Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie (IDAF) e.V.“

Denn wir brauchen den leidenschaftlichen Einsatz für den Aufbau einer besseren und gerechteren Welt, in der Menschen einander wieder als Personen achten. Wir brauchen Brückenbauer, die über Partei- und Konfessionsgrenzen hinweg, mit anderen zusammenzuarbeiten bereit sind, die ideologischen Gräben zu überwinden und gangbare Wege in die Zukunft zu bahnen suchen. Heute, mehr denn je.

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Linke Stänkerer erhalten zu viel Staatsknete
Von Peter Helmes

Die Grünen wollen – wie alle Linken – die Gesellschaft umpflügen.
Und für diesen Zweck erhalten sie viel – zu viel - Staatsgeld

In Deutschland gibt es eine spürbare Entfremdung zwischen Bürgern und der politischen Klasse. Vor wenigen Tagen diskutierte der Deutsche Bundestag über das sogenannte Demokratiefördergesetz von SPD, Grünen und FDP. Eine solche Debatte hätte ein Beispiel für lebendige Demokratie und sprühenden Parlamentarismus sein können. Das war die einstündige Aussprache am Abend eines langen Sitzungstages eher nicht. Familienministerin Lisa Paus von den Grünen und Innenministerin Nancy Faeser von den Sozialdemokraten trugen altbekannte Textbausteine über die wehrhafte Demokratie und den Kampf gegen Rechtsextremismus vor.

Auch sonst übten sich die Abgeordneten in Rollenprosa: Der Jungsozialist von der SPD beschimpfte die AfD. Die AfD wetterte gegen „links-grüne Deutschlandzerstörer“. Die Linkspartei forderte mehr Beteiligung von Migranten an möglichst allem. Ein FDP-Vertreter sprach etwas orientierungslos über ein „schlankes Gesetz“. Ein schlankes Gesetz übrigens, an dessen konkreten Förderbestimmungen die begünstigten Initiativen ungewöhnlicherweise mitformulieren dürfen.

Viel Geld für das sogenannte Demokratiefördergesetz
Erwähnenswert waren eigentlich nur die Redebeiträge der Christdemokraten Christoph de Vries und Marc Henrichmann und von Linda Teuteberg aus der FDP-Fraktion. Henrichmann sagte, solange Äußerungen aus der Mitte des Bundestages ständig an den rechten Rand des politischen Meinungsspektrums gerückt würden, bedürfe es eher eines Vertrauenswiederherstellungs- als eines Demokratiefördergesetzes. Das große Defizit der Ampelkoalition sei es, politische Probleme nicht benennen zu können oder zu wollen.

Das Grundgesetz seinem Geist entsprechend schützen
De Vries kritisierte, dass das Gesetz letztlich ein Instrument grüner Moralisierung sei, daß es – zum Beispiel mit der Meldestelle Antifeminismus – Denunziantentum fördere und letztlich der staatlich subventionierten Diffamierung von abweichenden Meinungen diene.

Teuteberg erinnerte an ein Diktum des ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann, der gesagt hatte, daß man das Grundgesetz nicht mit Methoden verteidigen dürfe, die seinem Geist und seinen Zielen zuwiderliefen. „Der freiheitliche Rechtsstaat schützt die Vielfalt, die er vorfindet“, sagte Teuteberg. Er regele aber nicht, wie diese Vielfalt auszusehen habe.

Das Problem des ganzen Vorhabens liegt möglicherweise darin, daß die „Ampel“ ihre Demokratieförderung vor allem als Austeilen von Geld an ihr sympathische „Projekte“ versteht – an „zivilgesellschaftliche Akteure“ aus ihrem Milieu. Die Projekte widmen sich Anliegen, denen man pauschal schlecht widersprechen kann, auch wenn man sie für unterschiedlich wichtig halten mag: der Bekämpfung von Islamfeindlichkeit, von Antiziganismus, von Antifeminismus, von Rechts- und, in einem sehr viel geringeren Anteil, auch von Linksextremismus.

212 Millionen Euro pro Jahr für „Demokratie leben!“
Das darf man alles tun, wahrscheinlich ist es sogar gut, daß jemand sich um diese Themen kümmert, aber es stellen sich doch einige Fragen. Kann man, zum Beispiel, noch von „zivilgesellschaftlichem“ Engagement sprechen, wenn die Arbeit der Geförderten komplett aus Steuergeldern finanziert wird?
Brauchen die 600 Projekte, die künftig dauerhaft aus dem Förderprogramm „Demokratie leben!“ bezahlt werden sollen, wirklich 212 Millionen Euro im Jahr? Das ist deutlich mehr, als die klassischen Parteien in Deutschland an Zuwendungen erhalten – und Parteien sind schließlich auch Zusammenschlüsse von Bürgern, die überdies zunächst Mitgliedsbeiträge und Spenden aufbringen müssen, bevor sie komplementäre Steuermittel erhalten.

Dann: Warum ist es eigentlich eine so schlimme Zumutung für die geförderten Nichtregierungsorganisationen, eine Erklärung zugunsten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung abzugeben, wie das bis 2014 vorgeschrieben war, und wogegen Sozialdemokraten und Grüne jetzt heftig agitieren?

Schließlich gibt es beispielsweise Spielarten des militanten „Antifaschismus“, für die der Steuerzahler vielleicht nicht unbedingt aufkommen möchte. Oder, wie die FDP-Politikerin Teuteberg es formulierte: „Gegen Antidemokraten zu sein, macht einen noch nicht selbst zum Demokraten.“ Teuteberg hält insofern die Fahne einer bürgerlichen FDP hoch, deren Umrisse in der Ampelkoalition immer mehr zu verblassen scheinen.

Wie erfolgreich sind die Programme?
Eine weitere Frage, die man den Initiatoren des Demokratiefördergesetzes stellen muß, ist die Frage nach Redundanz: Es gibt ja bereits eine Bundeszentrale für politische Bildung unter der Leitung des Sozialdemokraten Thomas Krüger, mit einem 100-Millionen-Etat, 400 Mitarbeitern und einem ähnlichen Profil wie „Demokratie leben!“.

Außerdem entsteht in Halle gerade das „Zukunftszentrum für die Deutsche Einheit und Europäische Transformation“. Geschätzte Kosten: 200 Millionen Euro, geplante Mitarbeiterzahl 180, Auftrag: ebenfalls irgendwie politische Bildung. Hinzu kommen aufwendigste Kampagnen der Bundesregierung, die die Bürger über einzelne politische Maßnahmen informieren und sie für zig Millionen Euro zur Corona-Impfung oder zum Energiesparen anhalten.

Irgendwann stellt sich bei all dieser wohlmeinenden Förderung guter An- und Absichten auch die Frage nach deren Wirksamkeit – die leider im Bundestag kaum thematisiert wurde. Bringt all das, was die Bundesregierung tut, was viel Steuergeld verschlingt und, unfreundlich formuliert, schon eine gewisse Pfründe für die eigene Klientel darstellt, denn etwas Positives für den Zustand der Demokratie in Deutschland?

Negative Korrelation zwischen Förderung und Verdruß
Daran darf man zweifeln. Das Vertrauen in die demokratischen Institutionen brach nach den Umfragen mehrerer Institute auch unter der Ampelregierung weiter ein. Erst in diesem Frühjahr ermittelten die Demoskopen von Forsa, daß nur noch rund 30 Prozent eine hohe Meinung von Bundeskanzler und Bundesregierung haben. Aus einer etwas älteren Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ergibt sich, daß Nichtwähler besonders unzufrieden mit der repräsentativen Demokratie sind. 70 Prozent von ihnen haben grundsätzliche Zweifel an dieser Staatsform.

Insofern müßten demokratieförderwillige Politiker über die jüngsten Landtagswahlen in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen oder Berlin beunruhigt sein, bei denen jeweils nur 55 bis 60 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgaben. Kann man dieser Entwicklung wirklich mit Projekten zu „frühkindlichen Demokratieerfahrungen“ oder „Islam und Diversity“ entgegenwirken? Oder müßten die Parteien nicht über ihre eigene Verfassung, über die Attraktivität ihres Angebots, den Zustand ihrer Jugendorganisationen und die Probleme ihrer Personalrekrutierung nachdenken?

In Ostdeutschland, wo „Demokratie leben!“ bis anhin seine Projektschwerpunkte hat, wollen 25 bis 30 Prozent der Wahlberechtigten bei den nächsten Landtagswahlen die AfD wählen. Liegt das daran, daß sie noch nicht genug, oder daran, daß sie schon zu viel Demokratieförderung erlebt haben? Bundesweit liegt die in Teilen rechtsradikale Partei in den Umfragen bei 15 Prozent.

Möglicherweise finden Demokratieförderung und Politikverdrossenheit in Deutschland in zwei vollkommen getrennten Paralleluniversen mit ganz unterschiedlichen Problemlagen statt: lauter Rechtsextremismus, Transfeindlichkeit und Gendersternchenbekämpfer hier, implodierende Verkehrsinfrastruktur, schlechte Schulen und entrückte Politikvertreter da. Oder die beiden Universen sind doch verbunden, dann gäbe es eine negative Korrelation zwischen den Bestrebungen der Ampelregierung zur Förderung der Demokratie und der politischen Stimmung im Land.                                                           

(Quelle: NZZ)

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Lauterbachs Krankenhausreform: 

Nix Halbes und nix Ganzes
Von Peter Helmes

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat „eine Revolution“ für die Krankenhäuser angekündigt. Zukünftig werde es weniger um Ökonomie und mehr um Medizin gehen. Doch aus den Bundesländern kommt Widerstand gegen die Reformpläne.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) möchte die medizinische Versorgung und Organisation der Krankenhäuser in Deutschland grundlegend reformieren. Der Bundestag hat dazu bereits ein kleines Gesetzespaket beschlossen; die Zustimmung des Bundesrates steht aber noch aus. Das erste Gesetzespaket soll ohnehin nur der Auftakt sein.

Lauterbach hatte eine Kommission beauftragt, die am 6. Dezember 2022 ausführliche Pläne für eine Gesundheitsreform vorgelegt hatte. Die Experten schlagen zum einen weitreichende Änderungen bei der Abrechnung mit einer Abkehr vom reinen Fallpauschalen-Prinzip vor, zum anderen eine stärkere Spezialisierung der Krankenhäuser.

Am 5. Januar 2023 haben die Beratungen von Bund und Ländern über die Reformvorschläge begonnen. Eigentlich sollen bis zum Sommer Eckpunkte für einen Gesetzentwurf vorliegen. Doch es gibt Gegenwind, insbesondere aus den Bundesländern, die sich die Krankenhausplanung nicht aus der Hand nehmen lassen wollen. Drei Länder wollen sogar die Verfassungsmäßigkeit der von der Bundesregierung geplanten Reform überprüfen lassen.

Am 2. Dezember 2022 hatte der Bundestag mit den Stimmen der Ampelparteien bereits eine kleine Reform verabschiedet. Der Bundesrat stimmte dieser am 16. Dezember zu. Sie sieht unter anderem mehr ambulante Untersuchungen, sowie einen neuen Pflegeschlüssel und mehr Geld für Kinderkliniken vor.

Ambulant statt stationär
Bestimmte Klinikuntersuchungen sollen künftig auch ohne Übernachtung möglich und von den Krankenhäusern abzurechnen sein. Das soll tagsüber mehr Kapazitäten beim knappen Pflegepersonal schaffen, wenn Nachtschichten nicht mehr besetzt werden müssen. Vor allem für ältere Menschen entfalle so auch das oft problematische Gewöhnen an die neue Umgebung. Ansteckungsrisiken würden verringert, heißt es im Entwurf. Möglich sein sollen Tagesbehandlungen nur mit Einwilligung der Patienten. Medizinisch dürften sie für komplexe oder risikoreiche Behandlungen in der Regel nicht in Betracht kommen. Besser im Krankenhaus bleiben sollten Patienten auch, wenn zu Hause eine Versorgung über Nacht nicht gesichert ist.

Neuer Pflegeschlüssel
Für bessere Bedingungen bei den oft überbelasteten Pflegekräften soll ein neues Instrument zur Personalbemessung beitragen. Dazu soll die Idealbesetzung für Stationen mit der Realität abgeglichen werden. Vorgesehen ist eine schrittweise Einführung, beginnend mit einer Testphase ab 1. Januar 2023. Ab 2025 soll die Personalbemessung dann scharf gestellt und auch sanktioniert werden.

Kinderversorgung
Auch die Kinderkliniken sollen durch die Reform gestärkt werden. Die Reform zielt auf eine grundlegende Stabilisierung. So sollen Kinderkliniken für 2023 und 2024 jeweils 300 Millionen Euro mehr Geld zur Verfügung gestellt werden. Garantiert werden soll damit das Erlösvolumen der Vor-Corona-Zeit von 2019, auch wenn Kliniken tatsächlich nur 80 Prozent davon erzielen. Die Finanzierung soll so auch unabhängiger von der leistungsorientierten Logik werden.

Um das Netz der Kliniken mit Geburtshilfeabteilungen zu erhalten, sollen die Länder zusätzliches Geld bekommen – und zwar jeweils 120 Millionen Euro für 2023 und 2024. Die Personalkosten für Hebammen sollen ab 2025 umfassender abgesichert werden. „Jede Hebamme, die im Krankenhaus arbeitet, wird voll finanziert“, versprach Lauterbach.

Probleme mit der Fallpauschale
Die Finanzierung der Krankenhäuser läuft aktuell fast ausschließlich über Fallpauschalen. Diese werden – der Name sagt es – pro behandelten Fall gezahlt. Die Krankenhäuser bekommen also für eine bestimmte Behandlung eine Pauschale in festgelegter Höhe.
Krankenhäuser brauchen in diesem Abrechnungssystem viele Patienten, um wirtschaftlich tragfähig arbeiten zu können. Insbesondere kleine Kliniken auf dem Land haben dazu oft nicht genügend Fälle.

Die Fallpauschalen schaffen aber nicht nur Anreize für möglichst viele Behandlungen. Krankenhäuser würden durch das System auch motiviert, Eingriffe zu machen, bei denen der Aufwand fürs Krankenhaus in einem guten Verhältnis zum Ertrag steht, sagte Klaus Emmerich von der bundesweiten Bürgerinitiative „Bündnis Klinikrettung“ im März 2022 im Deutschlandfunk. Emmerich hat 18 Jahre für kommunale Krankenhäuser als Betriebswirt gearbeitet. Im Fokus seiner Arbeit standen Fallpauschalen: „Natürlich haben auch wir uns strategisch überlegt, wenn es darum ging, unser Leistungsspektrum auszuweiten: Was rechnet sich? Was rechnet sich nicht?“

Das könne auch dazu führen, daß „Eingriffe gemacht werden, die nicht unbedingt medizinisch notwendig sind, nur damit das Krankenhaus überleben kann“, sagte Bundesgesundheitsminister Lauterbach am 6. Dezember 2022 im Deutschlandfunk. Zudem seien ganze medizinische Fachbereiche in diesem System schwer finanzierbar, etwa Kinderheilkunde, Pflege, aber auch oft die Spitzenmedizin.

Ein zentrales Problem der Bezahlung nach Fallpauschalen ist zudem, daß kein Geld für das Bereithalten von medizinischer Infrastruktur gezahlt wird. Die Corona-Pandemie hat sehr deutlich vor Augen geführt, wie wichtig medizinische Kapazitäten sein können – auch wenn sie eben nicht dauerhaft gebraucht werden.

Die Fallpauschalen hatte die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) im Jahr 2003 eingeführt. Die Fallpauschalen lösten damals die Bezahlung nach der Liegezeit ab. Kernziel dieser Reform war, die Liegezeiten zu reduzieren und damit Kosten zu sparen. Denn im internationalen Vergleich waren Patienten in Deutschland damals wesentlich länger in stationärer Behandlung. Einer der wichtigen Berater von Ulla Schmidt war damals der heutige Gesundheitsminister Lauterbach. „Wir haben die Ökonomie zu weit getrieben“, gestand Lauterbach bei der Vorstellung seiner Reformpläne.

Wie sollen Krankenhäuser zukünftig abrechnen?
Die Pläne der Regierungskommission zielen darauf, das bisherige Vergütungssystem grundlegend zu ändern. So soll es künftig sogenannte Vorhaltebudgets geben – Kliniken sollen dann auch für das Vorhalten von Leistungen bezahlt werden. Die Kommission empfiehlt einen festen Betrag etwa für Personal oder Technik.

Die Vorhaltepauschalen sollen ein Drittel der Leistungen abdecken. Zwei Drittel sollen auch zukünftig durch Fallpauschalen bezahlt werden. Damit werde wirtschaftlicher Druck von den Kliniken genommen. Intensivmediziner und Kommissionsmitglied Christian Karagiannidis verglich das bei der Vorstellung der Vorschläge mit den Aufgaben der Feuerwehr, bei der auch die Vorhaltung ihrer Leistung bezahlt werde.

Kleine Krankenhäuser vor dem Aus?
Von Schließungen ist in den Plänen keine Rede, manche Krankenhäuser sollen aber künftig nur noch eine Basisversorgung und damit weniger Leistungen als bisher anbieten. Die Reformpläne sehen eine grundlegend neue Einteilung von Krankenhäusern vor. Sie sollen in drei Level eingeordnet und entsprechend gefördert werden.

Level eins sieht die Grundversorgung vor, also medizinische und pflegerische Basisversorgung, zum Beispiel grundlegende chirurgische Eingriffe wie Blinddarmoperationen oder Notfälle wie gebrochene Beine. Diesen Krankenhäusern käme eine „herausragende Bedeutung“ zu, sagte der Koordinator der Regierungskommission, Tom Bschor. Sie sollen eine flächendeckende, wohnortnahe Versorgung sicherstellen. Gesetzgeberisch solle ermöglicht werden, dass sie von qualifizierten Pflegefachleuten und nicht von Ärzten geführt werden.

Darüber hinaus soll es das Level zwei für die Regel- und Schwerpunktversorgung geben. Dabei geht es um Krankenhäuser, die im Vergleich zur Grundversorgung noch weitere Leistungen anbieten. Hier gäbe es dann beispielweise auch eine Notfall-Schlaganfall-Station und vieles mehr.

Die lediglich grobe Zuweisung von Fachabteilungen wie „Innere Medizin“ zu Krankenhäusern soll durch genauer definierte Leistungsgruppen abgelöst werden, zum Beispiel „Kardiologie“. Grund ist, daß Krankenhäuser derzeit gewisse Fälle wie Herzinfarkte, Schlaganfälle oder onkologische Erkrankungen zu häufig auch ohne passende personelle und technische Ausstattung behandeln. Behandlungen sollen künftig nur noch abgerechnet werden können, wenn dem Krankenhaus die entsprechende Leistungsgruppe zugeteilt wurde. Dafür müssen genau definierte Voraussetzungen erfüllt werden, etwa bei personeller und apparativer Ausstattung.

Manche Fachgruppen soll es nur bei Level drei geben, hierunter würden beispielsweise Universitätskliniken fallen. Eine solche Spezialisierung wäre medizinisch sinnvoll. Ärzte können sich so auf Fachbereiche fokussieren, hier Erfahrung aufbauen und damit auch bessere Leistungen anbieten.

Für jedes Level sollen einheitliche Mindestvoraussetzungen gelten. „Damit würden erstmals einheitliche Standards für die apparative, räumliche und personelle Ausstattung gelten – und damit die Behandlungsqualität für die Patientinnen und Patienten maßgeblich erhöht werden“, heißt es in den Reformvorschlägen.

Hilft die Reform gegen den Personalmangel?
Zu den Plänen gehört, daß mehr Behandlungen ambulant statt stationär erfolgen sollen. Damit bräuchte es dann auch weniger Nachtschichten in der Pflege – und das würde mehr Einsätze am Tag ermöglichen. Ziel ist es also, das zur Verfügung stehende Personal effizienter einsetzen zu können.

Bundesgesundheitsminister Lauterbach geht zudem davon aus, daß die Reform die Arbeitsbedingungen verbessern wird. Er hofft, daß dadurch mehr Fachkräfte gehalten bzw. gewonnen werden können. Seit 2018 sei die Zahl der Auszubildenden in der Pflege um 20 Prozent gestiegen, da sei man auf dem richtigen Weg. Aber: „Wir verlieren aber sehr viele Menschen aus dem System heraus, Ärzte und Pflegekräfte, die diese starke Ökonomisierung nicht mittragen wollen.“ Es brauche eine Struktur, die dazu beiträgt, dass Menschen gerne im Krankenhaus arbeiten.

Welche Streitpunkte gibt es bei den Reformplänen?
Kritik an den Reformplänen von Lauterbach kommt vor allem von der Union und aus den Bundesländern, die um ihre Kompetenzen bei der der Krankenhausplanung fürchten. Nordrhein-Westfalen, Bayern und Schleswig-Holstein haben deshalb Widerstand angekündigt. „Wir wollen keine faulen Kompromisse“, sagte Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU). Man wolle per Gutachten die Verfassungsmäßigkeit der von der Bundesregierung geplanten Reform überprüfen lassen – das ist Vorstufe einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht.

NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) betonte bereits im Dezember im Deutschlandfunk:

„Eine Krankenhausplanung, gemacht von wem auch immer, aus einer Zentrale in Berlin, die kann nicht funktionieren.“

Krankenhäuser seien regional viel zu unterschiedlich aufgestellt. „Krankenhausplanung ist Ländersache und muß auch Ländersache bleiben“, sagte Laumann. Auch seine Kollegen aus Bayern und Schleswig-Holstein sehen die Versorgung in der Fläche durch die vom Bund geplante Reform bedroht.

Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manfred Lucha teilt diese Sorge nicht und verteidigte die Reform-Vorschläge im Dlf. Schon jetzt gebe es eine Konzentration auf spezialisierte Kliniken, betonte der Grünen-Politiker. Dennoch pocht der Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz auf die Zuständigkeit der Länder bei der Krankenhausplanung. Diese sei und bleibe Ländersache. Lucha versicherte aber. „Sie wird nicht angetastet.“

Zielgenauere medizinische Versorgung auch in der Fläche
Lucha (Grüne) zeigt sich zuversichtlich, daß die Krankenhausreform zu einer besseren Versorgung im ambulant-stationären Bereich führen wird. Die Zentralisierung von Kliniken sei der richtige Weg.

NRW-Gesundheitsminister Laumann (CDU) Zweifel an Finanzierbarkeit der Krankenhausreform
Etwas anders sieht es bei den geplanten Änderungen bei den Abrechnungen aus. Daß die Fallpauschalen grundlegend infrage gestellt würden, begrüßt NRW-Gesundheitsminister Laumann. Für echte Veränderungen müßte aber auch mehr Geld in die Hand genommen werden, forderte der CDU-Politiker. Das Gesundheitssystem brauche ständig mehr Geld, um steigende Lohnkosten und medizinischen Fortschritt zu finanzieren. Im Moment gebe es eine „massive strukturelle Unterfinanzierung“. Das knappe Geld lediglich neu zu verteilen, könne die Verhältnisse nicht verbessern, weder für die Patienten noch für die Mitarbeitenden. Das größte Problem, der Personalmangel, werde durch die geplante Reform nicht angemessen adressiert.

Die Techniker Krankenkasse kritisiert den geplanten Pflegeschlüssel. Das Instrument löse kein einziges Problem in der Pflege – im Gegenteil. Vorstandschef Jens Baas sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Statt neuer Kolleginnen und Kollegen wird die geplante Pflegepersonalbemessung den Pflegekräften jede Menge zusätzlichen Bürokratieaufwand bescheren.“

(Quellen: Dlf, Volker Finthammer, Philipp May, Johannes Kuhn, Theo Geers, Tobias Armbrüster, Michael Watzke, Bundesministerium für Gesundheit, dpa, KNA, epd, AFP, pto)

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Alarm! 

Deutschlands Kriminalitätsproblem wächst
Von Peter Helmes

Nach einem Rückgang der Fallzahlen fünf Jahre in Folge ist erstmals wieder ein Anstieg zu verzeichnen. Im Jahr 2022 wurden deutschlandweit insgesamt rund 5,63 Millionen Straftaten gezählt. Im Vergleich zum Jahr 2021 bedeutet das einen Anstieg von 11,5 Prozent. Aufgeklärt wurden hingegen nur 57,3 Prozent der Fälle, was einem Rückgang von 1,3 Prozentpunkten im Vergleich zum Vorjahr entspricht.

Besonders wirkte sich der Wegfall von Corona-Maßnahmen wie Lockdowns bei Straftaten wie Raub und Diebstahl aus. Diese nahmen im Vergleich zum Vorjahr um 26,8 beziehungsweise 20 Prozent zu. Die Diebstahlzahlen sind verglichen mit 2019 aber um 2,3 Prozent zurückgegangen.

Deutschland ist im vergangenen Jahr unsicherer geworden
Besonders die Zahl der Gewaltdelikte ist im Vergleich zu 2021 gestiegen. Auch der Anteil der ausländischen Tatverdächtigen hat zugenommen. Die polizeiliche Kriminalstatistik zeigt einen entscheidenden Grund, warum das Land in der Mitte Europas an Attraktivität verliert: Deutschland hat ein Kriminalitätsproblem.

Die größte Zuwachsrate in einem Einzelbereich gab es derweil bei den Straftaten gegen das Aufenthalts-, das Asyl- und das Freizügigkeitsgesetz. Diese ausländerrechtlichen Verstöße, die der Sache nach nur von Ausländern begangen werden können, nahmen von 2021 auf 2022 um 53,8 Prozent zu. Der Wegfall von Corona-bedingten Reisebeschränkungen und die damit verbundene massive Zunahme von irregulärer Migration nach Deutschland sind dafür die wesentlichen Gründe.

Innenministerin Nancy Faeser von der SPD nannte die Berliner Republik jedoch einen „starken Rechtsstaat und ein sicheres Land“. Die Zahlen entwickeln sich jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Insgesamt gab es 2022 etwa 5,6 Millionen Straftaten. Das sind 11,5 Prozent mehr als im Vorjahr und immerhin 3,5 Prozent mehr als 2019. Es handelt sich also keineswegs bloß um Nachholeffekte nach der Corona-Pandemie. Bedenklich ist insbesondere, daß aus der jüngsten Kriminalstatistik eine enorme Verbreitung von kinderpornografischem Material im Internet durch Minderjährige hervorgeht.

Festzustellen ist vor allem eine deutliche Zunahme der Fälle sexualisierter Gewalt gegen Kinder, zugleich deutlich mehr tatverdächtige Kinder, mehr Raubüberfälle, mehr Gewalttaten, auch und gerade mit Messern als Tatwaffen, deutlich mehr Wirtschaftskriminalität oder ausländerrechtliche Verstöße, hingegen eine gesunkene Aufklärungsquote. Deutlich gewachsen ist zum Beispiel die Zahl der tatverdächtigen Kinder – um 35,5 Prozent. Bei den nichtdeutschen Kindern beträgt der Anstieg sogar 48 Prozent. All das zeigt in hohem Maße, wie gefordert der Rechtsstaat ist. Und wie sehr er herausgefordert wird.

Insgesamt war ein deutlicher Anstieg bei den Gewaltdelikten festzustellen, die - verglichen mit dem Vorjahr - um 19,8 Prozent auf 197 202 Fälle angewachsen sind. Auffällig ist die Zunahme von Messerangriffen, bei denen eine Person unmittelbar bedroht wird. Verglichen mit dem Jahr 2021 stiegen die Taten der gefährlichen und schweren Körperverletzung (8160 Fälle) um 15,4 Prozent. Im Bereich von Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen war eine Zunahme von 5,9 Prozent festzustellen.

Nichtdeutsche Verdächtige überproportional beteiligt
Im Bereich der Gewaltkriminalität beträgt das Plus rund 20 Prozent im Jahresvergleich, ebenso bei den Sexualstraftaten. Bei der gefährlichen und schweren Körperverletzung addiert sich der Zuwachs auf 18 Prozent. So ist die Zahl der Messerangriffe in Deutschland gestiegen. (Das bezieht sich auf Taten, bei denen der Angriff mit einem Messer unmittelbar gegen eine Person angedroht oder  ausgeführt wird.

In sämtlichen genannten Kategorien stieg der Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger überproportional – wenngleich der Anteil der tatverdächtigen Flüchtlinge von 2021 zu 2022 leicht zurückging. Begangen wurden die Straftaten von insgesamt rund 2,1 Millionen Tatverdächtigen. Etwa 1,3 Millionen Tatverdächtige waren deutsche Staatsangehörige (+4,6 Prozent), 783 876 der Tatverdächtigen besaßen keine deutsche Staatsangehörigkeit (+22,6 Prozent). Unter den nichtdeutschen Tatverdächtigen waren 310 062 sogenannte Zuwanderer (+35,0 Prozent). Bei dem vom BKA verwendeten Begriff handelt es sich vor allem um Asylbewerber und Flüchtlinge. Ausländer im Allgemeinen und Asylzuwanderer im Besonderen bleiben damit weiter deutlich überrepräsentiert, wenn man ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung zugrunde legt.

(Anmerkung des Autors: Bei der Kriminalstatistik handelt es sich um eine sogenannte Ausgangsstatistik. Das heißt, erfaßt werden nur der Polizei durch Anzeigen oder Razzien bekannt gewordene Fälle. Wie die Gerichte die gemeldeten Fälle am Ende beurteilen, geht daraus nicht hervor.  (Anm. Ende)

Die Innenministerin verwies bei der Präsentation der Zahlen auf die Opfergruppen, verwendete aber kaum einen Gedanken für die Täter. Die SPD-Politikerin gab bedrückt zur Kenntnis, daß mehr als die Hälfte aller Frauen nachts „bestimmte Orte und Verkehrsmittel“  meide. Faeser empfahl mehr Licht auf den Straßen und mehr Begleitpersonal in den Zügen. Die Frage nach dem Zusammenhang von ausländischer Staatsangehörigkeit und Gewalt stellte sie nicht.

Erst der Präsident des Bundeskriminalamts, Holger Münch, reichte die Fakten nach: “Bei den nichtdeutschen Tatverdächtigen haben wir seit 2019 einen Anstieg von 14,8 Prozent, bei den deutschen Tatverdächtigen einen Rückgang von 0,7 Prozent.“ Er fügte hinzu: „Hier ist eine Auffälligkeit.“

Damit der Merkwürdigkeiten nicht genug: Noch „deutlich höher“ war der Zuwachs nichtdeutscher Tatverdächtiger unter Kindern und Jugendlichen. Einem Plus im Jahresvergleich von 49 Prozent steht ein Anstieg von lediglich 18 Prozent bei deutschen Minderjährigen gegenüber. „Starke Anstiege“ der Delikte gab es laut Münch unter ukrainischen ebenso wie unter syrischen jungen Flüchtlingen. Man müsse jedoch sämtliche Entwicklungen „vor dem Hintergrund der aktuellen Migrationszahlen“ einordnen. Mehr als 1,4 Millionen Menschen seien 2022 eingewandert, „ein historischer Höchstwert“. Natürlich steige dann auch die Kriminalität.

Mit dieser lakonischen Feststellung markierte Münch die Grenze aller Versuche, Deutschland allein durch die leichtere Anerkennung von Bildungsabschlüssen und eine neue „Chancenkarte“ auf der Grundlage eines Punktesystems anziehender zu machen für qualifizierte Einwanderer.

Diesen Weg hatte das Kabinett in der letzten Woche (am 29.3.) beschritten, und diese Bemühungen hatte der Kanzler vor dem Bundestag gelobt. So, versprach Olaf Scholz, werde es künftig „attraktiver, seine Fähigkeiten und seine beruflichen Qualifikationen hierzulande einzusetzen“. Die Regierung wolle weitere „Hürden“ beseitigen.

Falsche Anreize
Der blinde Fleck in der gesamten deutschen Integrationsdebatte ist die innere Sicherheit. Und offenbar ist auch der Kanzler fest entschlossen, diesen Teil der Wirklichkeit auszublenden. Scholz weigert sich, Zuwanderung unter sicherheitspolitischen Aspekten zu betrachten. Wenn die Kriminalität jedoch auch aufgrund der aktuellen Migrationspolitik steigt, dann setzt diese Politik falsche Anreize.

So wichtig es ist, ausländischen Hochschulabsolventen und Facharbeitern den Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt zu erleichtern: Diese Versuche bleiben Stückwerk, wenn Deutschland nicht wieder sicherer wird, bei Tag und Nacht, in Bussen und Bahnen, auf Straßen und Plätzen.

Natürlich spielen auch andere Faktoren eine Rolle: gute Löhne, gute Schulen und wettbewerbsfähige Steuern. Und hier sieht Deutschland im internationalen Vergleich eher schwach aus. Aber ohne Sicherheit geht beim Ringen um die besten Kräfte gar nichts.

Was nötig wäre, liegt auf der Hand: die Rückführung von Personen ohne Aufenthaltsrecht, die zügige Bestrafung von Straftätern und gegebenenfalls auch die Abweisung von Nicht-EU-Bürgern an der Landesgrenze, sofern erkennbar kein Asylgrund vorliegt. Selbst eine Reduzierung der Sozialleistungen für ausländische Staatsbürger sollte kein Tabu sein. Denn eine Regierung, die stetig anschwellende ungesteuerte Zuwanderung als Naturschicksal begreift, wird ihrer Verantwortung nicht gerecht.

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Justizreform oder Weg in eine Diktatur? Israels Netanjahu spaltet das Land
Von Peter Helmes

Mit der geplanten Justizreform droht Premierminister Benjamin Netanjahu, die Demokratie in Israel auszuhöhlen. Vorerst hat er die Reformpläne gestoppt, was aber nichts an dem stramm rechten Kurs ändert, den Netanjahu dem Land verpaßt.

Die Justizreform ist nur ein, aber ein großer Teil des angestrebten Umbaus des israelischen Staates, die Netanjahu in seiner Amtszeit angehen will. So hat er, wie im Koalitionsvertrag festgehalten, den jüdischen Anspruch auf das gesamte Land erhoben und somit auch die Annexion der besetzten palästinensischen Gebiete. Oberste Priorität soll der Siedlungsausbau bekommen, und zwar auch in den Gebieten, die für den künftigen palästinensischen Staat vorgesehen sind. Außerdem ist es das Bestreben Netanjahus, den Einfluß der religiösen Institutionen auf das öffentliche Leben zu erweitern.

Es ist ein bedrückendes Szenario: Die Staatskrise der Stunde findet derzeit in Israel statt, wo  – nach den größten Massendemonstrationen in der Geschichte des Landes, einem Generalstreik, der Dienstverweigerung Hunderter Militärreservisten und einem Proteststurm aus der Wirtschaft – Skandalpremier Benjamin Netanjahu versucht hat, die Pausentaste zu drücken. Eine „Justizreform“, wie seine Koalition es nennt, beziehungsweise der „Weg in die Diktatur“, wie die wütenden Protestierer das Vorhaben einstufen, liegt nun für einige Wochen auf Eis. Es ist der Versuch eines Waffenstillstands, nachdem Netanjahus Position unhaltbar geworden ist.

Mit der aktuellen Pause bei der Umsetzung der Reformpläne ist jedoch noch nicht geklärt, ob Netanjahu auch inhaltliche Zugeständnisse machen wird oder nur auf Zeit spielt. So wird Justizminister Jariv Levin in israelischen Medien mit den Worten zitiert: „Wir müssen smart sein, wir bringen die Reform später durch.“ Die Kritiker der Regierung befürchten, daß von den Plänen nichts gekippt wird.

Seit Wochen gehen Hunderttausende Menschen in Israel auf die Straße. Den Grund dafür hatte Justizminister Jariv Levin geliefert, als er im Januar die neue Justizreform vorstellte. Kurz zuvor war die neue rechts-religiöse Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vereidigt worden. Netanjahu gewann bei den Wahlen im November 2022 unerwartet hoch, er bildet seitdem die am weitesten rechts stehende Regierung der israelischen Geschichte. Die ultranationalistischen und ultraorthodoxen Mitglieder der Regierung sind sich nicht in allem einig, wohl aber über ein Ziel: die israelische Justiz zu schwächen und die Kontrolle der Regierung über Gerichte und Beamte zu verstärken.

Radikale Ziele der Netanjahu-Regierung
Der geplante Umbau des israelischen Rechtssystems zielt vor allem darauf ab, die Kontrolle der Knesset durch eine unabhängige Gerichtsbarkeit abzuschaffen. Bisher überprüfte der Oberste Gerichtshof die Rechtmäßigkeit von Gesetzen, Verordnungen und Erlassen. Künftig soll das Parlament das Recht haben, Entscheidungen der Obersten Richter mit einfacher Mehrheit zu überstimmen. Damit könnte die Regierung Gesetze durchsetzen, die höchstrichterlich abgelehnt wurden.

Für Yaniv Roznai z.B., Experte für Verfassungsrecht, bedeutet die Reform etwa die Zerstörung jeder wirksamen richterlichen Kontrolle. „Es ist eine krasse Untertreibung, dieses Gesetzespaket eine Reform zu nennen. Es läuft auf einen radikalen Paradigmenwechsel hinaus und würde die Exekutive mit absoluter Macht ausstatten“, sagte Roznai der „Neuen Zürcher Zeitung“.

Rechtsextreme und ultraorthodoxe Parteien steuern die Hälfte der Parlamentssitze bei, mit deren Hilfe sich Premier Netanjahu an seinen Amtssessel klammert. Noch nie wurde Israel von einem so radikalen Kabinett regiert. Die Extremisten wittern ihre historische Chance. Es empfiehlt sich, ihr Vorgehen auch aus der Ferne mit Argusaugen zu beobachten. Denn in Israel sind die Attacken derer, die den Staat radikal umbauen wollen, weiter fortgeschritten als in anderen gefährdeten Demokratien. Rechts- und Links-Populisten weltweit kupfern erfolgreiche Rezepte voneinander ab. Das, womit sie in Israel ihre Agenda voranbringen, wird später auch anderswo auftauchen. Wie also verläuft die Schlacht?

Die Zerstörung einer unabhängigen Justiz gehört weltweit zu den Plänen radikaler Polit-Aktivisten. Insofern sehen wir in Israel ein vertrautes Bild: Rückbau der unabhängigen Justiz, Besetzung der höchsten Richterämter nach dem Geschmack der Regierenden. Das kennen wir aus Polen und Ungarn und natürlich vom Ex-Präsidentenhallodri Trump. In Israel haben die Radikalen in Premier Netanjahu einen natürlichen Verbündeten gefunden: Er führt schon seit Jahren eine Privatfehde gegen Staatsanwälte und Gerichte, die ihn wegen Korruption anklagen wollen. Nur weil der Großteil der israelischen Gesellschaft auf die Barrikaden gegangen ist, muß der Plan, die Justiz anzuleinen, noch etwas auf seine Vollendung warten – aufgeschoben, aber nicht aufgehoben.

Neue „Nationalgarde“ – Miliz im Dienst eines Rechtsradikalen
Aber das ist nicht alles. Daß der belagerte Premier angesichts des Protests eingeknickt ist, haben seine extremistischen Freunde ihm übelgenommen. Damit sie ihm nicht von der Fahne gehen, hat Netanjahu dem Minister Ben-Gvir deshalb ein besorgniserregendes Geschenk gemacht: die Erlaubnis zum Aufbau einer „Nationalgarde“. Sie soll als persönliche Eingreiftruppe des Ministers für Ordnung sorgen – oder für das, was ein Mann mit seiner Vergangenheit unter Ordnung versteht. Selbst in der Polizei sorgt man sich jetzt, daß eine gefährliche Parallelstruktur entsteht: eine Miliz im Dienst eines Rechtsradikalen.

Vertreter der Palästinenser und der israelischen Araber befürchten das Schlimmste. Eine Menschenrechtsorganisation spricht von „Ben-Gvirs Revolutionswächtern“. Im Drehbuch der Rechtspopulisten ist das ein neuer Akt. Eine Privatarmee unter ihrer Kontrolle, die in staatliche Strukturen integriert ist – das kannten wir bisher eher aus Diktaturen in Afrika.

Aus Israel erreicht uns aber auch eine Botschaft, die unserer demokratischen Seele guttut. Denn wir können dort beobachten, was passiert, wenn die Mehrheit der Menschen zu dem Schluß kommt, daß die Grenze erreicht ist. Quer durch soziale Schichten, Berufe und  Karrieren sind die Leute auf die Straße gegangen, viele zum ersten Mal. Der Gegenangriff der Zivilgesellschaft kam aus unerwarteter Richtung: Reservisten aus Eliteeinheiten der israelischen Armee haben den Protest angeführt, ehemalige Oberkommandierende mischten sich unter die Demonstranten, Ex-Chefs der Geheimdienste warnten öffentlich vor dem Abgleiten in eine rechte Diktatur. Gewerkschaften und Arbeitgeber sind auf den Barrikaden. Das Kräftemessen ist in vollem Gang. Die Unabhängigkeit der Justiz ist noch nicht weg vom Fenster, die Demokratie auch nicht. Vielleicht sind es stattdessen bald ihre Feinde. Hoffen wir’s!

Es gibt jedoch keinen Grund für Erleichterung. Der Angriff von Ministerpräsident Netanjahu auf die demokratischen Institutionen Israels ist nicht vorbei, sondern nur auf Eis gelegt.

Nach fast drei Monaten politischer Krise, Empörung in der Bevölkerung und zunehmenden Protesten war der Premierminister gezwungen, seine Attacke auf die Justiz auszusetzen. Mit seinem Vorgehen gegen die Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofs, das von den meisten Israelis abgelehnt wurde, hat er der Wirtschaft und dem Staat bereits schweren Schaden zugefügt. Netanjahu sagt zwar, er wolle die Nation nicht in zwei Hälften reißen. In erster Linie geht es ihm aber nicht darum, das Land zu retten, sondern sich selbst.
Netanjahu verfolgt mit seinem Projekt nicht etwa das Ziel, institutionelle Probleme zu beseitigen. Sein Motiv ist viel weniger nobel; denn gegen ihn laufen Korruptionsverfahren, und deshalb wollte er den Obersten Gerichtshof ausschalten – ein Ziel, das auch seine ultrareligiösen und nationalistischen Koalitionspartner verfolgen. Am Ende war es ein massiver Streik, der Netanjahu zum Einlenken zwang.

Bündnis mit radikalen Partnern
Kein Premier hat Israel länger regiert als er, und er hat sich immer als ausgleichendes Moment zwischen unterschiedlichen Interessen und Ideologien präsentiert. Aber seine dritte Amtszeit erkaufte er sich durch ein Bündnis mit radikalen Partnern. Für eine Rettung der israelischen Demokratie spricht er jetzt mit der Opposition. Die Alternative wäre eine Entwicklung wie in Ungarn, Polen oder Venezuela.

Aber man darf sich nichts vormachen. Der israelische Ministerpräsident hat keinen Rückzieher gemacht. Er hat lediglich bis Ende April Zeit gewonnen, um die Reihen seiner Koalitionsregierung neu zu formieren und zu versuchen, den Widerstand auf der Straße zu verringern. Die Lösung seiner persönlichen juristischen Probleme im Zusammenhang mit Korruption und Machtmißbrauch spielt in dem ganzen Plan eine nicht geringe Rolle. Es wäre naiv zu glauben, Netanjahu habe plötzlich begriffen, daß er auch für die andere Hälfte Israels regiert, die auf der Straße gezeigt hat, daß demokratische Grundsätze nicht verhandelbar sind. Sein Projekt ist heute die größte Gefahr für die Demokratie in Israel.

Eine Mehrheit der israelischen Bevölkerung ist gegen die Justizreform ist, und auf den Straßen demonstriert eine bunte Regenbogenkoalition aus Start-up-Gründern, Homosexuellen, Reservisten und Gewerkschaften. Vor allem aber sind es Bürger, die Angst um die Demokratie und die Zukunft Israels haben.

Inzwischen ist die Lage explosiv. Rechtsextremisten haben bereits zur Gewalt gegen Demonstranten aufgerufen, zumal Sicherheitsminister Ben-Gvir die Erlaubnis erhalten hat, seine eigene zivile Nationalgarde zu errichten. Noch fällt es schwer zu glauben, daß Israelis gegeneinander zu den Waffen greifen. Aber es ruht eine enorme Verantwortung auf Netanjahu, die Pause in dem Gesetzgebungsprozeß für einen Ausweg aus der Krise zu nutzen.

Es ist bemerkenswert, daß ein so gewiefter Politiker wie Netanjahu keinen einfachen Ausweg aus dem Labyrinth findet, in das er sich selbst begeben hat. Zwar ruht das Verfahren nun über die Feiertage, doch dann soll das Thema wieder aufgegriffen werden. Zieht Netanjahu die Reform zurück, werden seine radikalen Partner die Koalition verlassen und Neuwahlen erzwingen. Hält er dagegen an dem Projekt fest, wird es erneute Proteste geben. Aber der große Verlierer wäre in beiden Fällen niemand anderes als Netanjahu.

Letztlich tobt ein gnadenloser Wertekampf zwischen zwei gleich großen Gruppen.
Sie stehen sich erbittert gegenüber, sowohl aktuell bei der Justizreform als auch beim grundlegenden Blick auf Netanjahu. Israels harter Kampf mit sich selbst endet nicht mit dem Kampf um die Justizreform. Er hat gerade erst begonnen.

Was das Vorhaben Netanjahus so brisant macht, ist, daß er die Macht eines Gerichts einschränken will, das viele der säkularen Juden und arabischen Bürger Israels als Bollwerk gegen die demographisch und politisch aufsteigenden ultrareligiösen und nationalistischen Gruppen ihrer Gesellschaft sehen. Angesichts der Überzeugung der religiösen Rechten, daß das von säkularen Juden dominierte Gericht aufgrund der eigenen politischen Präferenzen wiederholt gegen sie entschieden hat, ist nicht klar, wie ein Konsens gebildet werden kann – gerade wegen des Einflusses, den die religiöse Rechte in Netanjahus Koalition hat. Was Israel wirklich braucht, ist eine geschriebene Verfassung.

Wichtige Rolle der Palästinenser
Für manche Experten kann die Krise nur durch die Einbeziehung der knapp sieben Millionen in den von Israel kontrollierten Gebieten lebenden Palästinenser überwunden werden. Zwar spielten bei den Protesten die Rechte der Palästinenser keine Rolle. Doch das könnte sich ändern. Ein Bündnis mit den Arabern könnte die Rettung für das Land und die Demokratie sein. Doch die Hürden dafür sind sehr hoch. Die Israelis werden auf die Idee eines Judenstaates nicht verzichten. Und ob die Israelis einen Einheitsstaat akzeptieren werden, steht ebenfalls nicht fest. Auch eine Garantie, daß die Palästinenser nicht mehr diskriminiert werden, gibt es nicht.

Millionen Palästinenser leben de facto unter israelischer militärischer Kontrolle in einem rechtlosen Zustand. Das nährt selbstverständlich Zweifel am Niveau der israelischen Demokratie. Die jüngste Äußerung von Finanzminister Smotrich, daß es kein palästinensisches Volk gebe, goß da noch Öl ins Feuer. Alle Gegensätze und Kontroversen in der dortigen Gesellschaft kommen nun an die Oberfläche.

Israel befindet sich möglicherweise an einem kritischen Punkt seiner Existenz. Es bleibt mit Spannung, wie es mit der einzigen Demokratie in Nahost weiter geht. Ein eventueller Kollaps des Staates hätte weitreichende Folgen.
(Quellen: Eigene Recherchen, NZZ)

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Wahl in der Türkei 2023: 

Erdogan gegen Anti-Erdogan
Von Peter Helmes

Intellektueller trifft auf Populist
Recep Tayyip Erdogan strebt bei den kommenden Wahlen eine weitere Amtszeit als Präsident an. Sein Herausforderer, der Sozialdemokrat Kilicdaroglu, ist aus ganz anderem Holz geschnitzt. Kann er Erdogan schlagen?

Seit November 2002 ist in der Türkei die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan an der Macht. Gestartet ist die Partei einst mit dem Versprechen, das Land zu demokratisieren. Doch 20 Jahre später ist davon nicht mehr viel übrig.

Die „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“, kurz AKP, erzielte bei den Wahlen vom 3. November 2002 aus dem Stand die absolute Mehrheit im Parlament. Ihr Parteivorsitzender Recep Tayyip Erdogan am Wahlabend:

„Heute beginnt in der Türkei ein neues Zeitalter. Mit Gottes Hilfe schlagen wir eine neue, weiße Seite in der Geschichte des Landes auf. Wir werden die Verfassungsinstitutionen stärken, den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union beschleunigen und die Integration der Türkei in die Weltwirtschaft vorantreiben, und wir werden dabei den Lebensstil aller Bürger achten und respektieren.“

Rückblickend mögen diese Versprechen als blanker Hohn erscheinen. Doch damals waren die Hoffnungen in die AKP groß. Die AKP kam mit dem Versprechen an die Macht, daß sie das Land demokratisieren, die Menschenrechte achten und die Türkei in die Europäische Union führen sowie daß sie friedliche Beziehungen zu allen Nachbarstaaten schaffen und die Probleme des Landes lösen werde.

Die Hoffnungen und Sehnsüchte der meisten Menschen im Land erwuchsen aus dem damaligen Zustand der Türkei, die finstere Jahrzehnte hinter sich hatte. Sie war geprägt vom grausamen Kurdenkrieg und staatlichen Terror im Südosten des Landes, grassierender Korruption, instabilen Koalitionsregierungen und der Vorherrschaft des Militärs, das seit dem Putsch von 1980 die Politik kontrollierte.

Die AKP war neu und unverbraucht. Erst im Jahr vor der Wahl war sie gegründet worden. Und sie bot dem Militär die Stirn – das machte ihre Anziehungskraft aus.

Der Optimismus, den die AKP bei ihrem Amtsantritt erzeugte, war Ergebnis der verbreiteten Verdrossenheit über den damaligen Zustand des Staates. Viele Menschen hofften, daß die Partei die Türkei vor Korruption, Instabilität und der Vormundschaft des Militärs retten könne. Damals glaubte man noch, daß die Demokratie weltweit im Aufwind sei. Wenn die AKP den illiberalen Einfluß des Militärs eindämmen könne, so dachte man, dann würde der Pluralismus von selbst aufblühen. Damals verkörperte Erdogan alle Hoffnungen der Türkei. Er war ein selbstbewußter Politiker mit einem starken Wählermandat, und er hatte die richtigen Botschaften.

Bei den Parlamentswahlen von 2011 fuhr die AKP ein Rekordergebnis von fast 50 Prozent der Wählerstimmen ein. Nach einem Jahrzehnt, in dem es nur bergauf ging mit der Türkei, begann die AKP ihr zweites Jahrzehnt an der Macht mit einem nochmals gestärkten Mandat. Doch von nun an stand ihre Politik oft im Widerspruch zu den Wahlversprechen von 2002.

Heute sieht die Wirklichkeit anders aus, sie ist zurückgefallen in den Stand der 90er-Jahre, nur ist die Türkei noch autokratischer und repressiver geworden, und ihre Institutionen sind ausgehöhlt. Die Justiz ist kollabiert, das Bildungssystem ein Trümmerhaufen, die Wirtschaft ist am Boden, die Türkei hat Streit mit fast allen Nachbarstaaten. Die AKP hat seit einem Jahrzehnt jedes Interesse an Demokratisierung verloren, sie sperren sogar die Leute ins Gefängnis, von denen sie im ersten Jahrzehnt unterstützt worden sind. Die AKP fürchte den Machtverlust so sehr, daß sie alle früheren Ziele und Ideale dem Festhalten an der Macht unterordnet.

Erdogan ist es inzwischen weitgehend gelungen, sich das Militär, die Polizei, die Justiz und die Bürokratie, kurzum, den ganzen Staat, zu unterwerfen. Das war beim Amtsantritt der AKP nicht absehbar gewesen. Damals gab es eine breite gesellschaftliche Koalition, in der die unterschiedlichsten Kreise erstmals in der türkischen Geschichte zusammenkamen, um die AKP zu unterstützen. Die Wirtschaft unterstützte die AKP; die Liberalen unterstützten die AKP; die islamische Gülen-Bewegung unterstützte die AKP; die USA, die Europäische Union und viele Nachbarstaaten unterstützten die AKP. Sie alle hofften, daß die AKP die Türkei demokratisieren und damit stabilisieren werde. So fing das alles an vor 20 Jahren. Es gab damals so viel Hoffnung. Doch davon ist fast nichts mehr geblieben.

Mitverantwortung der EU
Auch die Europäische Union trägt eine Verantwortung für das Abgleiten der Türkei unter der AKP, darin sind sich die Experten einig. Dazu gehört vor allem die offene Ablehnung einer türkischen EU-Mitgliedschaft durch Frankreich unter Nicolas Sarkozy, der von 2007 bis 2012 französischer Präsident war.

Die EU-Perspektive gab der AKP einen äußeren Anker. Solange die Perspektive der EU-Mitgliedschaft bestand, gab es einen gewissen demokratischen Schwung. Aber gegen Ende dieses ersten, hoffnungsvollen Jahrzehnts drehte sich der Wind aus Europa – als Nicolas Sarkozy in Frankreich an die Macht kam, das war der Wendepunkt. Damit war der EU-Anker weg.

Der Flüchtlingsdeal von 2016
Daß die EU-Vollmitgliedschaft unerreichbar war, haben alle gewußt. Sarkozy hat es nur offen ausgesprochen. Schuldig am Schicksal der Türkei unter der AKP-Herrschaft hat sich die EU besonders mit dem Flüchtlingsdeal von 2016 gemacht:

Danach nahm die Türkei die syrischen Flüchtlinge auf und bekam dafür finanzielle Hilfen der EU und die Zusage für Visa-Liberalisierungen, Modernisierung der Zollunion und so weiter, was ohnehin nie umgesetzt wurde. Aber der unausgesprochene Teil des Deals war, daß die Europäer fortan darüber hinwegsehen würden, was in der Türkei innenpolitisch geschah. Und von diesem Augenblick an schauten die Europäer und insbesondere Deutschland weg.

Mit dem Flüchtlingsabkommen habe Erdogan die EU an die Leine gelegt, sagen viele politische Beobachter. Die türkische Regierung setzte den Deal seither mehrfach als Druckmittel ein. Etwa als sie vor zweieinhalb Jahren einen Flüchtlingsansturm auf die griechische Grenze organisierte. Die Beziehungen zur EU wurden zu einem reinen Transaktions-Verhältnis:

Erdogan behält die Flüchtlinge und pfeift auf die EU-Mitgliedschaft, und die EU interessiert sich nicht mehr dafür, was in der Türkei passiert und ob sie demokratisch oder autoritär regiert wird.

Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Wahl:
Am 14. Mai finden in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Der Urnengang erfolgt damit nur drei Monate nach dem verheerenden Erdbeben, das allein in der Türkei mehr als 47.000 Menschen getötet und Hunderttausende vertrieben und obdachlos gemacht hat. Der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdogan tritt mit seiner islamisch-konservativen AKP im Bündnis mit der ultranationalistischen MHP und der kleinen nationalistisch-religiösen BBP an. Ein Großteil der Opposition hat sich zu einem Sechser-Bündnis formiert, das von der sozialdemokratischen CHP angeführt wird.

Hierzu die wichtigsten Fragen und Informationen
- Wie ist die Bilanz des türkischen Präsidenten Erdogan?
- Was sind die größten aktuellen Probleme der Türkei?
- Wer fordert Erdogan bei der Präsidentschaftswahl heraus?
- Wer ist Kemal Kilicdaroglu?
- Welche Chancen hat die Opposition bei der Wahl in der Türkei?
- Was passiert, wenn die Opposition die Wahl in der Türkei gewinnt?
- Wie ist die Bilanz des türkischen Präsidenten Erdogan?

Der amtierende Recep Tayyip Erdogan ist seit zwei Jahrzehnten in der Türkei an der Macht. Sein Regierungsstil hat im Laufe der Jahre zunehmend autoritäre Züge angenommen. Massenproteste gegen die Regierung im Sommer 2013 ließ er blutig niederschlagen, nach einem Putschversuch 2016 wurde der Ausnahmezustand verhängt. Zwei Jahre später folgte die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie zugunsten eines Präsidialsystems, in dem der Staatspräsident durchregieren kann.

Türkei unter Erdogan: 20 Jahre AKP – vom demokratischen Aufbruch zur Autokratie
Seit November 2002 ist in der Türkei die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan an der Macht. Gestartet ist sie einst mit dem Versprechen, das Land zu demokratisieren. Doch 20 Jahre später ist davon nicht mehr viel übrig.

Inzwischen hat Erdogan, 69, nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die Verwaltung und den Staatsapparat in seine Hand gebracht, wichtige Posten mit Günstlingen besetzt. Auch ein Großteil der Medien des Landes ist unter seiner Kontrolle, außerdem die Justiz, das Militär und die Polizei. Widerspruch und Kritik werden unterdrückt. Erdogan ist ein Populist mit Hang zum Nationalismus und ohne viel Skrupel – wird aber zumindest von einem Teil der Bevölkerung noch immer als starker Mann betrachtet, der die Interessen der Türkei international mit Nachdruck vertritt.

Hoffnungen und Machterhalt
Betrachtet man die derzeitige politische Verfassung der Türkei, ist nur noch schwer nachvollziehbar, daß Erdogans Partei, die AKP, einst bei ihrem Wahlsieg 2002 große Hoffnungen auf demokratische Reformen, einen EU-Beitritt, friedliche Beziehungen zu den Nachbarländern und mehr Wohlstand weckte.

Das kam gut an in einem Land, das von einem grausamen Krieg gegen die Kurden, grassierender Korruption, instabilen Koalitionsregierungen und der Vorherrschaft des Militärs geprägt war. Doch im Laufe der Zeit kippten die guten Vorsätze ins Gegenteil, zentral für Erdogans Denken wurde der eigene Machterhalt. Von den anfänglichen Errungenschaften – offizielle Beitrittsverhandlungen mit der EU, Friedensprozess im Kurdenkonflikt, drastische Steigerung des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens – ist nicht viel übriggeblieben.

Was sind die aktuell größten Probleme der Türkei?
Momentan hat die Türkei vor allem mit den Folgen des verheerenden Erdbebens zu kämpfen. Nach Schätzungen der Europäischen Investitionsbank werden für den Wiederaufbau von zerstörten Gebäuden und der Infrastruktur mindestens hundert Milliarden Euro benötigt – Geld, das Ankara ohne fremde Hilfe kaum aufbringen kann. Das Land trauert um rund 47.000 Tote – nach Angaben der türkischen Regierung sahen sich bislang 3,3 Millionen Menschen gezwungen, das Erdbebengebiet zu verlassen.

Abstimmung über die Zukunft des Landes
Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat Fehler eingestanden. Nach dem Erdbeben im Südosten der Türkei kam Hilfe vielerorts zu spät. Die Opposition hofft nun auf einen Machtwechsel. Ob es bei der Wahl Mitte Mai dazu kommt, ist allerdings völlig offen.

Die Türkei befand sich schon vor dem Beben in einer wirtschaftlich schwierigen Lage. Ein Grund dafür ist die massive Inflation, die das Leben immer weiter verteuert. Laut Angaben der staatliche Statistikbehörde TÜIK lag die Inflationsrate im Februar bei 55,1 Prozent. Unabhängige Wirtschaftsforscher sehen die Realinflation gar bei über 120 Prozent. Hinzu kommt eine hohe Arbeitslosigkeit, viele junge Menschen sehen keine Perspektiven für sich.

Daneben beherbergt die Türkei so viele Flüchtlinge wie kein anderes Land der Welt. Aktuell leben dort nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) mehr als 3,6 Millionen Vertriebene des syrischen Bürgerkriegs sowie knapp 320.000 Schutzsuchende aus anderen Ländern, hauptsächlich aus Afghanistan und dem Irak.

Wer fordert Erdogan bei der Präsidentschaftswahl heraus?
Ein Oppositionsbündnis aus sechs Parteien fordert Erdogan bei den Wahlen heraus. Dieses hat sich auf einen Herausforderer geeinigt: Kemal Kilicdaroglu. Der zurückhaltende Intellektuelle ist Vorsitzender der größten türkischen Oppositionspartei, der sozialdemokratischen CHP. Neben der CHP und der nationalkonservativen Iyi-Partei gehören vier kleinere Parteien zum Sechser-Bündnis, darunter auch die Gelecek Partisi (Zukunftspartei) des ehemaligen  Weggefährten Erdogans und Ex-Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu.

Bündnis von sechs Parteien gegen Erdogan
Kilicdaroglu gilt als guter Vermittler mit diplomatischem Geschick – zugleich aber auch als schlechter Wahlkämpfer. Dieser Umstand hätte fast zum Bruch des Oppositionsbündnisses geführt: Die Chefin der Iyi-Partei, Meral Aksener, kündigte vor kurzem plötzlich und überraschend die Zusammenarbeit auf. Aksener hätte lieber andere CHP-Politiker, wie den beliebten Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu oder den Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavas, als Herausforderer gesehen. Doch dann ruderte sie wieder zurück und die Opposition einigte sich schließlich auf einen Kompromiß: Die beiden Bürgermeister sollen bei einem Wahlerfolg Vizepräsidenten werden.

Wer ist Kemal Kilicdaroglu?
Der Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu ist ein Gegenbild zu Erdogan: hier der bedächtige Intellektuelle mit randloser Brille, dort der polternde und beständig austeilende Populist. Kilicdaroglu steht an der Spitze der sozialdemokratischen CHP – der Partei von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Unter Kilicdaroglus Führung hat sich die einst streng säkulare Volkspartei auch konservativen Kreisen und den marginalisierten Kurden geöffnet.

Der studierte Ökonom, der lange Jahre die türkische Sozialversicherungsbehörde leitete, sieht sich selbst als „stille Kraft“. Auch von der Statur her eher zierlich, brauchte Kilicdaroglu einige Zeit, den richtigen Ton in seinen Reden zu finden, die viele als nicht entschlossen genug empfanden. Kritiker sagen, daß ihm schlicht Charisma fehlt. Doch im Laufe der Jahre gelang es dem Oppositionspolitiker nach und nach, sich in der öffentlichen Debatte Gehör zu verschaffen.

Im repressiven Klima nach dem Putschversuch 2016 unternahm Kilicdaroglu 2017 einen 420 Kilometer langen Marsch von Ankara nach Istanbul, um gegen die Inhaftierung eines CHP-Abgeordneten zu protestieren. 2019 eroberte die CHP die Bürgermeisterämter in mehreren Großstädten, darunter Istanbul und Ankara, und beendete dort die jahrelange Herrschaft von Erdogans AKP.

„Dies ist mein Kampf für eure Rechte“
Gestärkt durch diese Siege, verschärfte der Erdogan-Herausforderer den Ton. „Dies ist mein Kampf für eure Rechte. Die Reichen sind reicher geworden und die Armen ärmer“, sagte er 2022 – und zeigte sich dabei in seiner dunklen Wohnung. Dort war der Strom abgestellt worden, weil Kilicdaroglu aus Protest gegen die stark gestiegenen Tarife seine Rechnung nicht bezahlt hatte. Auch ein Auftritt beim türkischen Statistikamt, dem er vorwirft, die Inflationszahlen zu schönen, oder seine Kritik an Unternehmern, sich durch ihre Nähe zur Macht zu bereichern versuchen, trugen zu seinem Image als redlicher Politiker bei.

Offen ist, ob er damit gegen den Populismus Erdogans ankommt. Kilicdaroglu, 74, stammt aus der historisch rebellischen Provinz Dersim (heute Tunceli), in der hauptsächlich Kurden und Aleviten leben. Auch er selbst gehört der islamischen Glaubensrichtung der Aleviten an. Einige politische Beobachter sehen in seiner Herkunft einen Nachteil, was die Wahl angeht, andere einen Vorteil – könnte er doch deswegen Zugang zu kurdischen Wählerinnen und Wählern finden. Bei einem Wahlsieg wäre Kilicdaroglu der erste alevitische Präsident der Türkei.

Welche Chancen hat die Opposition bei der Wahl in der Türkei?
Im Vergleich mit früheren Wahlen hat die Opposition dieses Mal sehr gute Chancen, Erdogan zu besiegen. Wegen der hohen Lebenshaltungskosten im Land und einem schlechten Management der Rettungs- und Hilfsmaßnahmen nach dem Erdbeben hat Erdogan mit sinkenden Zustimmungswerten zu kämpfen. Auch Korruptionsvorwürfe machen ihm zu schaffen.

Umfragen zufolge ist das Rennen zwischen AKP und der ultranationalistischen MHP auf der einen Seite und dem Oppositionsbündnis auf der anderen offen. Erdogan selbst spricht von einer „Schicksalswahl“.
Das Zünglein an der Waage könnte die pro-kurdische HDP spielen, die zehn bis 15 Prozent der Wähler hinter sich vereinen kann. Sie hat bereits angekündigt, Oppositionsführer Kilicdaroglu unter bestimmten Bedingungen zu unterstützen, und verzichtet darauf, einen eigenen Kandidaten aufzustellen, was das Oppositionsbündnis stärkt.

Was passiert, wenn die Opposition die Wahl in der Türkei gewinnt?
Das Ziel des Oppositionsbündnisses ist es, das Land wieder in eine parlamentarische Demokratie zu überführen und das Präsidialsystem abzuschaffen. Es hat sich mehr Demokratie, mehr Freiheit und mehr Gerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben. Der türkische Politikwissenschaftler Cengiz Aktar warnt allerdings vor zu vielen Hoffnungen auf einen Machtwechsel. Besonders die Beteiligung von nationalistischen Kräften am Oppositionsbündnis sei ein Risiko, betont er.

Beobachter haben zudem Zweifel, ob die Wahlen frei und fair von statten gehen werden, und ob Erdogan eine mögliche Niederlage überhaupt anerkennt. Sollte er die Wahl verlieren, drohen ihm und seiner Familie vermutlich Anklagen wegen Korruption. „Dieses Regime wird alles daransetzen, die Wahlen zu gewinnen. Und selbst wenn es verlieren sollte, wird es die Macht nicht friedlich übergeben – an welche Nachfolger auch immer“, sagt Aktar.

Martin Erdmann, 2015-2020 deutscher Botschafter in der Türkei, erklärte zur Wahl:

„Kilicdaroglu ist ein integrer und kompetenter Politiker“

Erdogan könne es sich gar nicht leisten, das Amt abzugeben, meint auch der Politikwissenschaftler Dimitar Bechev, der in Oxford lehrt: „Wenn er geht, gibt es für ihn zwei Optionen: Exil oder Gefängnis. Für ihn steht also alles auf dem Spiel, und er wird versuchen, an der Macht festzuhalten, gleich was passiert und was es kostet.“
Auf längere Sicht werde es für die AKP aber schwer, an der Macht zu bleiben, eränzte  Bechev. Denn Erdogan habe keinen Nachfolger. Seine Herrschaft beruhe auf einem personalisierten System.

Die türkische Zivilgesellschaft gibt nicht auf
Für die Zukunft ist Bechev deshalb optimistisch und verweist auf die kommunalen Wahlsiege der türkischen Opposition in den größten Städten des Landes vor drei Jahren: „Wir haben in den letzten Jahren viel Widerstandskraft gesehen.“ Die türkische Zivilgesellschaft habe trotz aller Repressionen nicht aufgegeben: „Und sie hat eine Opposition, die das Spiel inzwischen auch gelernt hat.“

Der amerikanische Türkei-Experte Nicholas Danforth ist in seiner Einschätzung hingegen deutlich weniger optimistisch: Der Weg zurück zur Demokratie werde weit sein, betont er. Selbst im besten Fall, der Ablösung Erdogans, werde das vom Präsidenten erzeugte „ultra-nationalistische und antiwestliche“ Klima das Land weiterhin plagen. Auf längere Sicht werde sich die AKP aber schwertun, an der Macht zu bleiben. Denn für Erdogan gebe es keinen Nachfolger. Seine Herrschaft beruht auf einem personalisierten System, das total auf ihn zugeschnitten ist. Selbst wenn die AKP nächstes Jahr abgewählt werden sollte: Alle Institutionen sind „ausgehöhlt“, die Ämter und Posten seit zwei Jahrzehnten von AKP-Gefolgsleuten besetzt.

Es wird lange dauern, bis Leistung und Verdienste wieder zählen, bis Justiz und Bürokratie wieder mit kompetentem Personal besetzt werden können. Selbst wenn Erdogan die Macht verliert, wird es ungeheuer viel Zeit, Energie und Arbeit kosten, den Schaden zu beheben, den er dem Land zugefügt hat.

Und Erdogan wird bis zum Schluß um sein Amt kämpfen; denn er kann es sich nicht leisten, das Amt abzugeben. Denn wenn er geht, gibt es für ihn zwei Optionen: Exil oder Gefängnis. Für ihn steht also alles auf dem Spiel.

Nachtrag:
Am 30. August d.J. hat das türkische Parlament dem Beitritt Finnlands zur Allianz zugestimmt.

Die Türkei war das letzte der 30 NATO-Länder, das noch kein grünes Licht gegeben hatte. So muß sich Wladimir Putin, der kurz vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine noch den NATO-Austritt der mitteleuropäischen Länder gefordert hatte, nun damit abfinden, daß die Grenze des transatlantischen Pakts 400 Kilometer vor Sankt Petersburg liegt.

Der Anteil der Finnen, die einen NATO-Beitritt befürworten, stieg von 20 Prozent vor dem Krieg auf 80 Prozent. In Helsinki wurde verstanden, daß man nur für oder gegen den russischen Diktator sein kann. Für ein Land, das mit dem Rücken zur Wand steht und das höchste Standards bei Demokratie und Rechtsstaat erfüllt, gab es nur eine Antwort: sich in die Reihen der Feinde Russlands einzugliedern.

Zum Glück waren die finnischen Regierungen der letzten Jahrzehnte weitsichtig und haben auf Kompatibilität mit der NATO geachtet. Insofern erscheint eine Mitgliedschaft heute als logische oder sogar selbstverständliche Fortsetzung dieser Linie. Ist der NATO-Beitritt erst einmal vollzogen, muß die Integration der finnischen Streitkräfte in die NATO-Systeme vorangetrieben werden, und auch in der Außenpolitik gibt es viel zu tun: Es ist lebenswichtig, daß auch Schweden in die NATO aufgenommen wird. Finnlands Sicherheit ist erst dann vollständig, wenn unser strategisch wichtiger Nachbar im selben Zug sitzt wie wir.
Quellen: u.a. Dlf, Güsten, Gunnar Köhne, AFP, dpa, ahe

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Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,
das mag für heute genügen.

Mit herzlichen Grüßen und bestem Dank für Ihre Treue,
Ihr
Peter Helmes
Hamburg, 4. April 2023


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