Belarus – was ist los auf der anderen Seite
des „Eisernen Vorhangs“?
US-Präsident Trump will den Ukraine-Krieg durch Verhandlungen beenden – und gleichzeitig weiter aufrüsten. Polen schreitet dabei voran: Mit bald fünf Prozent Militärausgaben, gemessen am nationalen BIP, ist unser Nachbarland mittlerweile Spitzenreiter im westlichen Staatenbündnis, noch vor den USA. Eingebettet in der neuen Ost-West-Konfrontation zwischen NATO und EU auf der einen – Russland, Nordkorea und Belarus auf der anderen Seite – liefern sich Warschau und Minsk dazu einen speziellen, historisch stark belasteten Stellvertreter-Kampf. Unser Auslands-Korrespondent Billy Six war auf der anderen Seite des wiedererstandenen „Eisernen Vorhangs“ – in Weißrus(s)land, für eine längere Rundreise, bei der er an explosiven geschichtlichen Zusammen-hängen geforscht hat – und berichtet nun exklusiv für uns, für Sie!
Von Billy Six (38), Journalist
aus Brest, Minsk, Chatyn, Grodno & Lida
( Samstag, den 22. März 2025 )
Der „Eiserne Vorhang“ scheint zurück. Fast alle Grenzübergänge aus dem Westen in die osteuropäische Republik Belarus – das wir früher noch „Weißrussland“, ganz früher „Weißruthenien“ nannten – sind seit der Kriegseskalation von 2022 geschlossen worden: Richtung Ukraine – komplett. Zu Lettland, Litauen und Polen existiert jeweils noch ein einziger Zugang. Personen-Verkehr per Zug gibt es jetzt nur noch gen Russland; die Strecke Berlin-Moskau ist seit der „Corona“-Transformation dagegen nie mehr befahren worden.
Am Grenz-Fluss Bug begann im Juni 1941 der folgenschwere Deutsch-Sowjetische Krieg; die weltberühmte Widerstands-Festung Brest liegt direkt gegenüber. In der Hoffnung, die stundenlange Wartezeit vor der Grenz-Brücke über den Fluss zu umgehen, kam ich zu Fuß direkt an den polnischen Schlagbaum. Jedoch: Passanten sind hier gar nicht erlaubt. Und selbst die vordersten Fahrzeuge werden von den Polen nur noch alle ein bis zwei Stunden durchgelassen. Dann – jenseits von Flutlicht und zur Abwehr feindlicher Panzer aufgestellter „Spanischer Reiter“ – werde ich drüben einer über zweistündigen intensiven Befragung unterzogen, Telefon und Rucksack intensiv durchsucht, selbst das Haarwaschmittel wird mit einer speziellen Lampe durchleuchtet.
Das Grenzpersonal trägt sowjetische Uniformen wie aus einem „James-Bond“-Film. Sie wollen wissen, ob ich für den bundes-deutschen Auslandsgeheimdienst BND tätig sei, Drogen konsu-mieren würde, „Kontakte“ vor Ort hätte, und warum ich 2022 in Ukraine gereist sei. Zuletzt folgt dann noch ein freundliches Hintergrund-Gespräch mit Ihor, einem Sprecher der staatlichen Nachrichten-Agentur „BelTA“. Er warnt mich eindringlich, dass journalistische Tätigkeit, speziell Bürger-Befragungen, ohne Genehmigung nicht erlaubt, ja strafbar sei. Gleiches gelte für Demonstrationen gegen die Regierung, die man hier im Land als Zersetzung der öffentlichen Ordnung begreift.
Europas letzter Diktator?
So gesehen könnten die West-Medien recht haben mit ihrer bereits seit über zwei Jahrzehnten vorgetragenen Parole von „Europas letztem Diktator“. Zumal, wenn ich mich an die Minsker Massenkundgebungen erinnere, die ich im Oktober und November 2020 selbst beobachten konnte – und damals sogar in einer unglücklichen Situation für einige Minuten von maskierten Polizisten völlig unerwartet und grundlos in einen zivilen Transporter abgeführt worden war … den ich dann nur dank meines deutschen Reisepasses wieder verlassen durfte. Zwar war jene Protestbewegung – anders als der ukrainische „Maidan“ – absolut friedfertig. Ihr Sieg hätte sehr wahrscheinlich jedoch zu einer zügigen russländischen Militär-Intervention geführt, noch lange bevor sich Belarus mit EU und NATO hätte assoziieren können. Auf meinen Wunsch hin äußert der BelTA-Sprecher die aus seiner Sicht wesentlichen Falsch-Meldungen westlicher Medien über sein Land: So die Aussage, dem Volk würde „kein normales Leben ermöglicht“, belarusische Behörden organisierten „Kanäle für die illegale Migration“ sowie, dass Minsk ein „direkter Komplize des russländischen Kriegs gegen die Ukraine“ sei. Was der westliche Medien-Konsument darüber hinaus ebenfalls meist nicht erfährt: Anders als in anderen Ex-Sowjetrepubliken ist den Massen hier in den 1990ern und 2000er Jahren ein harter sozialer Absturz erspart geblieben. Es gab keinen Ausverkauf der Staatsbetriebe wie in Russland oder der Ukraine. Und in der Corona-Zeit verweigerte die Regierung Affekt-Handlungen wie „Lockdown“, Masken- und Impf-Zwang – und war so zu jener Zeit gemeinsam mit Schweden das freieste Land Europas. Im wahrsten Sinne.
Unser Auslandskorrespondent Billy Six war gut getarnt dabei, als im Herbst 2020 die größte osteuropäische Protestbewegung
der letzten Jahre in Minsk tobte - und scheiterte.
Dass diese Phase – vom Präsidenten, der Sauna, Wodka und Traktorfahren als Heilmethoden empfahl, als „Psychose“ bezeichnet – ohne Blessuren überstanden wurde, beweist allen anderen, wie ungefährlich das Corona-Virus in Wirklichkeit gewesen ist. Ist es nun Zufall, dass die erstmals 2006 eingeführten Sanktionen des Westens in jener Zeit drastisch verschärft und ganz offiziell Millionen-Budgets für die Opposition bereitgestellt worden sind? Allein der „Aktionsplan für die Zivilgesellschaft in Belarus“ kostete den deutschen Steuerzahler „zusätzlich […] bis zu 21 Millionen Euro“. In der Doppelausgabe 85/86 des DEUTSCHLAND-magazins hatten wir 2021 ausführlich über diese Problematik berichtet (→https://www.konservative.de/BelarusBillySix.pdf). Da das Auswärtige Amt seine entsprechende Meldung von damals gelöscht hat – siehe hier →https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/belarus-node/aktionsplan-zivilgesellschaft-belarus/2441578 – können Sie diese nun (nur noch) bei uns aus dem Archiv nachbestellen (Tel. 040 / 299 44 0).
Sanktionen trieben Belarus in die Arme Moskaus
Gebracht haben die Strafmaßnahmen objektiv nichts. Lukaschenko, mittlerweile 70 Jahre alt, scheint fest im Sattel zu sitzen. Allerdings sind Minsk und Moskau seitdem noch sehr viel enger zusammengerückt. Der Staatsführer sei „fest im Würgegriff Russlands“, schreibt aktuell die in Belarus zensierte Webseite der „taz“, stellvertretend für alle einflussreichen deutschen Nachrichtenseiten.
Präsident Lukaschenko ist im Alltag recht präsent.
Russlands Präsident Putin sandte seit 2020 zusätzliche finanzielle Unterstützung, um die wirtschaftliche Lage abzusichern. Belarus erkannte anschließend – mit sieben Jahren Verzögerung – die Krim als russländisch an, importierte Millionen „Sputnik“-Impfdosen und gab im Februar 2022 sogar seine verfassungsrechtlich verankerte Neutralität auf. Tausende russische Soldaten haben das Land an-schließend für den versuchten Vormarsch auf Kiew passiert. Dauerhaft stationiert geblieben seien nun aber „nur 2.000 russische Soldaten“ und auch Atomwaffen des Nachbarlandes, wie mir ein Diplomat der belarusischen Botschaft in Berlin im Vieraugen-Gespräch bestätigte. Trotz aller Unkenrufe hat sich die Führung in Minsk bisher aber an ihre öffentliche Zusage gehalten, sich nicht selbst mit Soldaten am Ukraine-Krieg zu beteiligen. Westliche Medien verbreiten die Theorien, dass die 2025er Präsidentschaftswahlen in Belarus überraschend um ein halbes Jahr vorverlegt worden waren, um Putin gegenüber eine Nicht-Teilnahme am zuletzt kritischen und besonders blutigen Winterkrieg rechtfertigen zu können . . . sowie Donald Trump zu Beginn seiner Amtszeit vor vollendete Tatsachen zu setzen.
Von meinem neuen Kontakt bei BelTA erhalte ich die Mitteilung, dass „die Umsetzung des Fünfjahresplans für die sozioökonomische Entwicklung der Republik Belarus“ einen vorzeitigen Termin „gerechtfertigt“ habe, um es „ihm zu ermöglichen, seine Befugnisse bereits in der Anfangsphase der strategischen Planung auszuüben“. Außerdem würde „während dieser Zeit nur eine minimale Zahl von Bürgern das Land verlassen, um Urlaub zu machen“. Briefwahl gibt es nicht. Der weißrussische/weißruthenische Präsident Alexander Lukaschenko – seit 1994 an der Macht – ist am 26. Januar 2025 für eine siebente Amtszeit wiedergewählt worden. Die Wahlbehörden in Minsk meldeten ein Ergebnis von 86,82 Prozent – bei einer Beteiligung von 85,7 Prozent. Mehr als 2020, der letzten Abstimmung. Heute wie damals wird das Resultat im Westen nicht anerkannt. Doch zu Massendemonstrationen wie beim letzten Urnengang ist es diesmal in Belarus nicht gekommen. Und echte Anhänger Lukaschenkos – →https://www.facebook.com/alexander.lukianov/posts/pfbid02wxh92N6Yy3SzetbnjYBdek49nXQtbBsmGecqJwWxxM9FK3w1FCU5pwXbQi7jpZWtl – trifft man auch ab und an.
Lukaschenko versucht den Spagat zwischen Ost und West
Sicher nicht zu Unrecht verweisen westliche Medienhäuser jetzt (wieder) auf „über 1.250 politische Gefangene“ in Belarus. Für einige von ihnen setzt sich die Bundesregierung sogar öffentlich ein – wie etwa im Falle der Oppositions-Politikerin Maria Kalesnikava. Dabei handelt es sich um Hilfestellungen, die mancher Deutscher in ähnlicher Lage schmerzlich vermissen muss. Wir berichteten im letzten DEUTSCHLAND-magazin Nummer 89/90 (→http://billys-reisen.de/wp-content/uploads/2024/05/2024_05_14-_-DEUTSCHLAND-MAGAZIN-_-Billys-Artikel-zum-Venezuela-Prozess.pdf) über verzerrte Interessen-Politik rot-grüner Außenpolitiker und Diplomaten in Berlin – mit ihrem begrenzten Verständnis für die Interessen der eigenen Leute. Was westliche Medien gleichzeitig weitgehend verschweigen, sind auch die diplomatischen Initiativen aus Minsk – immerhin schon 2014/15 Verhandlungsort für zwei gleichnamige Abkommen – zur Beilegung, zumindest zur Einfrierung des brutalen Ukraine-Kriegs.
Wir dürfen jetzt visafrei ins Land!
Teil der Strategie ist dabei auch eine ausgestreckte Hand nach Westen: Seit dem 19. Juli 2024 sind bis zu 30-tägige Reisen nach Belarus für EU-Bürger visafrei möglich. Dies, obwohl die EU ihrerseits keine entsprechenden Lockerungen für die Belarusen/Weißrussen überhaupt nur in Erwägung zieht. Es sei eine Möglichkeit, so Ihor von der BelTA, dass „die Bürger des kollektiven Westens erfahren, wie unser Land wirklich ist“. Attraktionen gibt es zur Genüge: So etwa den Nationalpark „Beloweshskaja Puschtscha“, den letzten Urwald Europas, mit wilden Wisenten, den Europäischen Bisons. Aber auch alte Burgen und Schlösser. Dazu unverrückte, originale Denkmäler aus der Sowjet-Zeit. Ein junger französischer Auswanderer, den ich in einem Minsker Hostel treffe, findet „die sowjetische Kultur“ gut, die „Heimatverbundenheit“ als Gegenentwurf zur „globalistischen Konsum-Gesellschaft“ des Westens. Eine gewisse romantische Naivität ist dabei kaum zu verhehlen – aber allein aus der BRD soll es hunderte Auswanderer geben, die das ähnlich sehen. Einige kenne ich sogar selbst – doch im medialen Rampenlicht wollen diese Leute nicht stehen. Ihre Zurückhaltung, Skepsis gegenüber den eigenen Landsleuten, hat in den letzten Jahren zugenommen. Generell wirken die Menschen in Belarus ohnehin eher kalt.
Weihnachten spielt auch in der Öffentlichkeit eine große Rolle - und wird
von Ende November bis weit in den Januar hinein zelebriert.
Günstiges und angenehmes Reisen
Doch ein günstiges Reiseland ist Belarus für europäische Verhältnisse allemal: Supermärkte haben volles Waren-Angebot, ganz ohne West-Produkte – mir hat es an nichts gefehlt –, mit Preisen wie bei „Aldi“ oder „Lidl“. Ein Nachtquartier (halbstaatliche Bahnhofs-Hotels oder ange-sagte Jugend-Hostels) ist schon ab umgerechnet zehn Euro zu haben, eine 250-Kilometer-Zugfahrt (übrigens immer auf die Minute pünktlich) für rund fünf Euro, der „Kebab“ von der Straße (auch von Einheimischen gemacht) für etwa drei Euro. Besonders niedrig sind, dank der Gaslieferungen aus Russland, die Energiepreise – im Winter ist dies an den beinahe sommerlich warm beheizten Gebäuden zu spüren. Noch immer Geheimtipp, entdecken westliche Ausländer zunehmend auch das hiesige Dienstleistungsangebot für sich: Medizinische Kontrolluntersuchungen, Zahnbehandlungen, Schönheits-OPs – günstiger als in der EU, mit zügigen Terminen und schnellem Service. Auch Bank-Konten sind für Privat- wie Geschäftskunden zunehmend von Interesse – Belarus ist eines der letzten Länder der Welt, das nicht am internationalen Finanzdaten-Austausch (CRS) teilnimmt, und dies auch für die Zukunft nicht einplant. Den westlichen Finanzsanktionen sind bisher nur dezidiert staatliche Institute unterworfen. Und anders als im ausgegrenzten Russland funktionieren „Visa-“ und „Master-Card“ im Zahlungsverkehr weiterhin.
Kontrolle, Überwachung, Sicherheit
Dazu gesellt sich die Erkenntnis, dass Belarus eines der sichersten Reiseländer der Welt zu sein scheint. Ein Komfort, der seinen Preis hat: In den letzten Jahren sind, speziell in den Innenstädten, viele Kameras in den Straßen installiert worden. Die Polizei ist wachsam und knallhart. Als ich an einem Tag in Grodno etwa versuche, abseits der Ampel eine Fahrbahn zu passieren, ertönt sofort ein lautes sirenenartiges Heulen durch die Luft: Ein Einsatzwagen stellt mich zur Rede, kontrolliert – und lässt mich nach einer verbalen Rüge gnädigerweise ohne Strafzahlung wieder ziehen. Natürlich brav, entsprechend den Verkehrsregeln. Anderntags erlebe ich, wie ein Hostel-Mitbewohner von Einsatzkräften der Spezial-Miliz „OMON“ in Handschellen abgeführt wird – wegen eines „Betrugsfalls“, wie Mitbewohner sagen. Die Unterkünfte sind gesetzlich verpflichtet, Gast-Daten (auf jeden Fall zumindest von ausländischen Staatsbürgern) unverzüglich an die Behörden weiterzuleiten. Andernfalls ist jeder Fremdländer verpflichtet, sich nach spätestens zehn Tagen beim örtlichen Ausländeramt selbst zu registrieren. Bei der Ausreise wird dies nachgeprüft.
Auferstanden aus Ruinen – die Sowjetunion lebt
Dass keine der früheren Sowjet-Republiken das alte System der UdSSR so verinnerlicht und bewahrt hat wie Belarus, wird auch an zahlreichen Symbolen deutlich, die jedem auffallen, der sich mit offenen Augen durchs Land bewegt: Meterhohe Lenin-Statuen habe ich in jeder größeren Stadt gesehen, wohl gepflegt. Alte, wenngleich in Stand gehaltene Wappen mit Hammer und Sichel an den Gebäuden des Sozialistischen Klassizismus. Ebenso Wandmalereien zur Verherrlichung von Errungenschaften und Technik der Sowjet-Macht. Mahnmale des „Großen Vaterländischen Krieges“ und für die Rote Armee sowieso.
Die Symbole der Sowjetmacht haben nicht einfach nur überlebt - sie werden bewusst gepflegt.
An einigen Waggons der Minsker Metro sind jüngst sogar Porträts Josef Stalins aufgemalt worden. Eine zentrale Rolle in der Erinnerungskultur spielt das Kriegsmuseum im Zentrum der Hauptstadt Minsk – sowjetisch beflaggt, mit 4.200 Quadratmetern Ausstellungsfläche, 8.000 ausgestellten und 150.000 archivierten Exponaten ist es eines der größten Museen zum Zweiten Weltkrieg. Und vor allem: Das erste. Die Ausstellung wurde bereits im Oktober 1944 eröffnet, drei Monate nach Abzug der Deutschen Wehrmacht. Minsk, eine der zwölf sowjetischen „Helden-Städte“, lag damals buchstäblich in Schutt und Asche – und musste anschließend komplett neu geplant und wiederaufgebaut werden. Wie Phönix aus der Asche stieg sie auf – und wurde mit heute zwei Millionen Einwohnern zur mit Abstand größten Stadt von Weißrussland/Belarus, das nun insgesamt über neun Millionen Staatsbürger hat, etwa so viele wie Österreich.
Spannungen unter der Oberfläche
Haben sich in der „Weißen Rus“ die Langzeit-Strategien der Hintermänner von Gorbatschows „Perestroika“ und „Glasnost“ erfüllt? Neben roter Folklore ist auch das KGB geblieben, die landwirtschaftlichen „Kolchosen“ ebenso, auch staatliche Wirtschaftspläne und hierarchische Direktiven. Aber: Aus dem alten globalistischen Bolschewismus der Moskowiter ist hier ein National-Bolschewismus entstanden, wie er Sarah Wagenknecht oder „Compact“-Herausgeber Elsässer wohl ganz oder teilweise gefallen dürfte. Die BSW-Chefin ist hier – speziell unter Regierungsanhängern – nicht nur eine bekannte, sondern auch eine sehr geachtete Persönlichkeit. Seit dem Abzug der Roten Armee aus Afghanistan im Jahr 1989 war kein belarus(s)ischer Soldat je mehr in feindliche Auseinandersetzungen verwickelt gewesen. In diesem Zusammenhang ließen Aussagen von Präsident Lukaschenko im Gespräch mit der russischen Tageszeitung „Iswestija“ doch aufhorchen, als er am 25. Oktober 2024 verbal „einigen ruhelosen Menschen in Russland“ entgegentrat, „einschließlich innerhalb der Regierung“, die einen Anschluss seines Landes an die große Föderation anstrebten. Dies dürfe so nicht angefragt werden, so der Präsident. „Es ist unmöglich und nicht durchführbar. Ich habe sogar Angst, es zu sagen, aber das würde Krieg bedeuten“:
→https://deu.belta.by/president/view/lukaschenko-im-interview-mit-iswestija-jeder-politiker-der-die-souveranitat-von-belarus-angreift-wird-68618-2024 / →https://www.youtube.com/watch?v=jgqIs9Wy6D0. In Bezug auf besetzte Gebiete der Ukraine warnte er dazu, „dass dort eine neue Partisanenbewegung entsteht und Terroranschläge gegen uns und die Russen verübt“ würden. In der Tat hat an der neuen Ostfront vor allem der asymmetrische Krieg der ukrainischen Kosaken-Nachfahren die mächtige, aber starre Armee Russlands bisher weitgehend zum Stehen gebracht. Mit dabei: Hunderte mittlerweile hartgesottene, nationalistische Guerilla-Kämpfer weißruthenischer Nationalität. Viele von ihnen Oppositionelle, die nach Niederschlagung des Volksaufruhrs von 2020 in der Ukraine, in Litauen, Polen, Deutschland, Georgien oder der Türkei Zuflucht gefunden hatten. Sie drohen für die Stabilität in ihrer Heimat künftig zur tickenden Zeitbombe zu werden – erst recht, falls sich nach einem unerwarteten Ableben Lukaschenkos, einem Machtvakuum im Lande, die Dinge plötzlich doch auf einmal sehr dynamisch entwickeln sollten. Aktuell ist davon im Alltagsleben der Menschen noch nichts zu spüren; alles wirkt normal.
Die Wunden des Weltkriegs reißen wieder auf
Soldaten-Friedhof Surkanty/Nordwest-Belarus, 2022 plattgemacht: Hier hatte die
Polnische Heimatarmee 1944 gegen die Rote Armee gekämpft.
Aber: Wie in der Ukraine, Russland, dem Baltikum und Polen, so sind auch hier die alten, scheinbar längst verheilten Wunden des Zweiten Weltkriegs wieder neu aufgebrochen, offen zu Tage getreten. Von Heilung kann keine Rede mehr sein – auch wenn diese neue Lage in Deutschland verdrängt wird. Seit Februar 2022 haben die Polen zahlreiche, möglichweise gar alle sowjetischen (Helden-)Denkmäler abgerissen. Als Antwort ließ Minsk polnische Monumente, darunter vor allem Soldaten-Friedhöfe aus der Zeit von 1939 bis 1945, mit Planierraupen niederwalzen – späte Revanche, „Entnazifizierung“, gegenüber jenen, die sich sowohl Hitler als auch Stalin widersetzt hatten.
Seit 2021 wird der sowjetische Einmarsch vom 17. September 1939 in Ost-Polen als „Tag der Nationalen Einheit“ feierlich begangen – und in den Zeitungen als „Tag der Arbeiter-Befreiung in West-Belarus vom polnischen Adel“ dargestellt. Die westlich orientierte Oppositionsbewegung ist mit Hitlers Kollaborateuren in eine Reihe gestellt und dämonisiert worden. Lukaschenko: „Ich wende mich an all diejenigen, die davon überzeugt sind, dass der Faschismus die Zivilisation in unser Land gebracht habe. An die, die die Mörder heroisieren, an die, die sich vor weiß-rot-weißen Flaggen verneigen, unter denen der Genozid am belarusischen Volk vollzogen wurde.“ Bei uns weitgehend in Vergessenheit geraten ist, dass sich die slawischen Verbündeten von Wehrmacht und SS aus dem „Weißruthenischen Zentralrat“ und der „Weißruthenischen Heimwehr“ in der Zeit von 1941 bis 1944 ebenfalls mit der weiß-rot-weiß gestreiften Landesfahne identifizierten – deren öffentliche Verwendung heute drastische Konsequenzen nach sich zieht. Zufällig ebenso wie in der Bundesrepublik ist es auch hier der Paragraph 130 des Strafgesetzbuchs, der entsprechende „Volksverhetzung“ ahndet. Am „Unabhängigkeitstag“ vom 3. Juli 2021 – gefeiert wird nicht die staatliche Selbstständigkeit von 1991, sondern der Einmarsch der Roten Armee in Minsk 1944 – erklärte Präsident Lukaschenko, dass es unter der deutschen Besatzung einen „Holocaust an den belarusischen Menschen“ gegeben habe.
Die Ruinen der Festung von Brest, in welcher Hitlers Wehrmacht über eine Woche lang aufgehalten wurde, gelten heute als zentrales nationales Kultur-Denkmal in Belarus.
Er schloss sich damit Putins Strategie der „Entnazifizierung“ an, die bereits vor der Ukraine-Invasion in Konturen erkennbar war. Anders als der Herr im Kreml setzt der belarusische Staatsführer jedoch einen besonders ungewöhnlichen und für uns in der BRD nicht akzeptablen Akzent, indem er sich gleichzeitig dazu verstieg, zu behaupten, dass es „den Juden gelungen“ sei, „allen zu beweisen, dass sie den Holocaust erlebt haben, und die ganze Welt kniet vor ihnen nieder“. Die Rede wurde anschließend von Israel, jüdischen Interessenvertretern und Vertretern der weißrussischen Opposition scharf zurückgewiesen: „Lukaschenko demonstriert seine Unhöflichkeit, seine pathologischen Lügen und seinen offenen Antisemitismus. Dieser Mann versucht, in Belarus all das Böse zu nähren, gegen das die Welt im 21. Jahrhundert kämpft“ (→https://www.timesofisrael.com/belarus-leader-jews-caused-the-world-to-kneel-before-them). Belarus war bis in die 1940er Jahre Stammland der aschkenasischen Ost-Juden, welche heute die größte Bevölkerungsgruppe in Israel stellen – und auch eine kaum bekannte Rolle im Partisanenkampf gegen Hitlers Armeen spielten. Der Millionen slawischen Opfer des Ost-Feldzugs werde jedoch nicht gedacht, so Lukaschenko. Die offizielle Geschichtsschreibung – so wie einst in der Sowjetunion und der DDR auch – unterscheidet die Opfer von Krieg und Besatzung nicht nach ihrer Herkunft, sondern spricht neutral von „Sowjetbürgern“. 27 Millionen sollen es gewesen sein, so der letzte Stand der Forschung – von 20 Millionen ging man bis zur Gorbatschow-Zeit aus, zum Ende der Stalin-Ära noch von sieben Millionen.
Verstorbene auf der Anklagebank
Jetzt, in der Phase einer verstärkten Rückbesinnung, eröffneten belarusische Strafverfolgungsbehörden und Gerichtshöfe Verfahren gegen deutsche Soldaten und ihre Verbündeten, die bereits seit Jahren tot sind, aber zuvor nie belangt werden konnten. In den Tageszeitungen lese ich von einem Prozess gegen den ukrainischen Kollaborateur Konstantin Smouski, „Kommandeur des 118. Bataillons der Sicherheitspolizei“ – später ausgewandert in die BRD und die USA –, der am 30. Dezember 2024 vom Obersten Gerichtshof nun posthum, über 80 Jahre später, des Völkermords für schuldig befunden worden ist. Viele Nachrichtenseiten im Netz mit den entsprechenden Meldungen sind von Deutschland aus gar nicht abrufbar: →https://belarus24.by/en/news/society/the-supreme-court-of-belarus-found-the-punisher-smovskiy-guilty-of-committing-genocide / →https://en.iz.ru/en/1816505/2024-12-30/court-belarus-found-nazi-collaborator-smovsky-guilty-genocide.
Die BRD-Behörden, peinlich berührt, haben bisher noch keine Antwortformel auf die Amtshilfe-Ersuchen aus Minsk erhalten, mit Archiv-Material Prozesse gegen damalige deutsche Soldaten zu ermöglichen. Durch Zufallsfunde und gezielte Grabungen sind in jüngster Zeit landesweit einige Tausend Leichen, mutmaßlich aus der Zeit von 1941 bis 1944, geborgen worden: →https://pramen-news.by/bezymyannye-no-ne-zabytye-prodolzhayutsya-poisk-pogibshih-voennosluzhashhih-velikoj-otechestvennoj-vojny/. Tatsächlich ist es mir sogar gelungen, mehrere Zeit- und Augenzeugen zu besuchen – und an den Tatorten des blutigsten Krieges aller Zeiten interessante Spuren ausfindig zu machen.
Die Erkenntnisse müssen von Historikern und Juristen aber noch überprüft werden. Auch in Deutschland ist das Thema ein heißes Eisen geblieben – daran ändert auch die neue Konfrontation mit Russland (vorerst) nur wenig. Einigkeit besteht darin, dass mit rund einem Viertel der Bevölkerung kein Land so viele Menschen verloren hat wie Belarus. Europas Todesfelder. Auf dem Lande sind Hunderte Dörfer ausradiert worden. Die dichten Wälder und vernebelten Sümpfe, ein grausamer Partisanen-Krieg – Belarus/Weiß-ruthenien war schon damals mit Unwägbarkeiten verbunden, die bis heute ihrer Aufklärung harren. Zu Ehren der eigenen zivilen Kriegsopfer und der gefallenen Rotarmisten sind in den letzten Jahren viele zusätzliche Denkmäler errichtet worden. Zur Ruhe gekommen scheinen aber weder die Toten noch die Aufarbeitung. Den Schatten der Vergangenheit vermag niemand zu entfliehen.
Denkmäler blutiger Schlachten und für Massaker, die „den Faschisten“ angelastet werden, prägen das Land
- hier Brest, Dremlevo, Chatyn
Der Zweite Weltkrieg ist bis heute landesweit sehr präsent geblieben - hier in Grodno (links) und Woranawa
Rückblick: Unser „Deutschland-Magazin“ von 2020